Anni Wendel

Anni Wendel, geb. Dehn, gesch. Mazikowski: Arbeiterin, Arbeitersportlerin und Gewerkschafterin

Meine Generation, wenn man die manchmal hört, da könnte man verrückt werden, daß sie überhaupt nichts begriffen haben und gar nichts mehr wissen, da habe ich schon mal richtig grob gesagt: „Na, sagen sie mal, haben sie überhaupt gelebt? Gar nichts wissen sie mehr?

Kindheit und Jugend

Anna Dehn wurde am 29. März 1909 in der Manteuffelstraße in Kreuzberg in eine Arbeiterfamilie geboren. Ihr Vater war Gewerkschafter und bis 1914 Mitglied der SPD. „Zuhause wurde immer über Politik gesprochen“, berichtete sie Claudia von Gélieu nach 1945.

Anni besuchte eine Mädchenschule in Kreuzberg. Aus finanziellen Gründen konnte sie danach keine Ausbildung machen. Sie arbeitete in verschiedenen Betrieben, darunter Lütter und Boysen am Görlitzer Bahnhof.  

Nach der Schule, 1923, habe ich dann als ungelernte Arbeiterin angefangen in einer Druckerei. Ich hätte schon gerne eine Lehre gemacht, Schneiderin, Kostüme fürs Theater nähen, das war so mein Traum. Aber durch die Inflation waren so viele Konkurs gegangen, da gab es keine Lehrstellen. Und später, da hat man nicht mehr dran gedacht, das noch nachzuholen. (…). Wenn man jung ist, überlegt man sich das nicht, aber in späteren Jahren habe ich ihnen das doch zum Vorwurf gemacht. Denn wenn man einen Beruf hat, hat man doch andere Möglichkeiten, als wenn man gar nichts gelernt hat. Drucker oder Schriftsetzer, die haben schon ganz gut verdient, das war ein Beruf, der schon was vorstellte, aber wir natürlich nicht, wir Hilfsarbeiter. (…) 1926 bin ich die Gewerkschaft eingetreten, die Graphische Hilfsarbeitergesellschaft. Das hatte keinen besonderen Anlaß, das war eigentlich selbstverständlich, wenn man arbeitete, daß man auch in der Gewerkschaft war.

Und im Druckereigewerbe, da war der Organisierungsgrad besonders hoch, 90 Prozent aller Arbeiter waren da organisiert. Wenn in einem Betrieb jemand fest angestellt werden sollte, da hatte der Betriebsrat so eine starke Stellung, daß niemand eingestellt wurde, der nicht in der Gewerkschaft war. (…). Also, bei Lütter und Boysen war ich vier Jahre (…) und dann auch noch in kleineren Firmen, da war ich bloß zur Aushilfe, 14 Tage, 3 Wochen, 4 Wochen. Das hing mit dem Saisongeschäft im Druckereigewerbe zusammen, die Saison ging ab September bis zum März ungefähr, dann war Saure-Gurken-Zeit, da mußte man oft mit der Entlassung rechnen, und es ging erst im Herbst wieder los.

Ab 1923 war Anni für zwei Jahre in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) aktiv. 1925 trat sie in den Arbeitersportverein ASV Fichte ein.

(…) bin ich 1925 bei „Fichte“ eingetreten in der Skalitzer Straße. Da war ich bis zum Verbot 1933. Warum? Naja, da war man mit Gleichaltrigen zusammen, hat zusammen gespielt, geturnt, und die Eltern wußten, wo man war. Im „Fichte“ waren viele, viele Sportarten, man hatte Kanufahrer, Wanderfahrten, Radfahrer; aber Segeln hatten wir nicht und Tennis auch nicht und Reitsport, das waren ja Sportarten, die von Arbeitern nicht ausgeübt werden konnten, das war ja sehr teuer. Beim Rudern waren schon ganz gute Facharbeiter, die mehr verdienten, das war auch schon ein teurer Sport.

Da gab es mal ein Schauturnen oder einen Elternabend wo ein bißchen Turnvorführungen gemacht wurden, da haben die erst mal sehr viel Freizeit gegeben und ihr Taschengeld auch noch. Da muß man sagen, daß die Solidarität in diesen Dingen groß war, man hat für die Kinder viel von sich aus gemacht, ohne staatliche Unterstützung. (…)  Wir Kinder, wir haben schon Wanderlieder oder Arbeiterlieder gelernt oder alte Landsknechtlieder, das waren ja eigentlich auch Kampflieder, das gehörte schon mit zum Programm.

1930 heiratet Anni in erster Ehe. Bis dahin hatte sie mit ihren Eltern in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Küche gewohnt. Nach der Hochzeit wurde sie im Rahmen der „Doppelverdienerkampagne“, an der die Nazis nach 1933 festhielten, entlassen. Im gleichen Jahr lernte sie den Arbeiter und Kommunisten Ludwig Wendel kennen. 1933 ließ sie sich von ihrem ersten Mann scheiden und lebte mit Ludwig zusammen in der Waldemarstraße 25.

 

Das enge Wohnen war da oft mit ein Grund zu heiraten, damit man von zu Hause wegkam. Eine eigene Wohnung hat man sich als einzelne nicht leisten können, es gab ja auch keine.

Leben im NS

Was von Hitler zu erwarten war, das haben wir von Anfang an gewußt, das konnte man in ihren eigenen Zeitungen lesen, im „Völkischen Beobachter“ oder im „Stürmer“, aber daß es so schlimm werden würde, das hat man doch nicht gedacht.

Gleich nach der Machtübertragung an die Nazis war Anni zusammen mit Ludwig für die KPD Südost im Widerstand aktiv. Sie verteilten zusammen illegale Zeitungen wie die „Rote Fahne“, gaben Flugblätter weiter und unterstützten politisch Verfolgte durch Einsammeln von Solidaritätsbeiträgen. Sie hatten ab 1936 unter anderem Kontakte zu Milda Voß, ebenfalls aus Kreuzberg.

In meiner Einkaufstasche habe ich die selbstabgezogenen Zeitungen zu den Leuten gebracht. (…). Über Motorradfahrer und auf anderen Wegen wurden sie illegal eingeschleust und über Verbindungsstellen in Berlin weiterverteilt. Ich habe beim Zeitungsverteilen geholfen und beim Kassieren von Beiträgen. Das waren nur kleine Beiträge und Spenden, (…). Aber wir brauchten das Geld, um die Arbeit zu finanzieren und für die „Rote Hilfe“. Es gab ja Freunde mit Familie, die bereits verhaftet waren. Die Frau mit Kindern stand dann plötzlich ohne jegliches Geld da. Und eh‘ sie sich versah, war schon wieder die nächste Miete dran. Über die Rote Hilfe wurde in solchen Fällen eine Unterstützung organisiert. Später traf ich mich auch mit anderen Genossen und Genossinnen. Bei einer Tasse Kaffee wurden Mitteilungen ausgetauscht, die ich an meinen Mann und andere weitergegeben habe.

Im September 1937 wurde Anni im Betrieb verhaftet und in die Frauenabteilung des Polizeigefängnis Alexanderplatz gebracht. Auch Ludwig wurde später zuhause festgenommen. Ab Dezember 1938 saß sie im Frauengefängnis Barnimstraße in Friedrichshain, bis zur Verhandlung im Oktober 1938 in Einzelhaft. Dort lernte sie Lilo Hermann und Gertrud Häger kennen.

Die erste Politische, die mich ansprach in der Barnimstraße, das war Lilo Hermann, die erste Frau, die die Nazis zum Tode verurteilt hatten. Das Urteil war noch nicht vollstreckt, weil über die Gnadengesuche noch nicht entschieden war. Außerdem wurde sie weiter verhört, trotz Folter erfolglos. Lilo Hermann erklärte: „Tote können nicht mehr reden.“ Trotzdem hoffte sie noch, das sich etwas tun und ihr Todesurteil aufgehoben würde. Deshalb wollte sie von mir wissen, wie weit es draußen sei. Danach fragte sie alle Neuzugänge. Aber ihre Hoffnung war vergebens. Die Hinrichtung wurde angeordnet, Lilo wurden die Haare abgeschnitten, ihr Nacken mußte frei sein für den Henker. Um eine Selbsttötung zu verhindern, wurde eine Kriminelle zu ihr in die Zelle gelegt. Als Lilo morgens um 4 Uhr zur Hinrichtung abgeholt wurde, der Tag war vorher nicht bekannt, schlug die Kriminelle mit dem Eßgeschirr Alarm. Alle anderen Häftlinge folgten ihrem Beispiel. Noch heute träume ich von diesem Lärm …

Ende 1938 wurde Anni vom „Volksgericht“ zu fünf Jahren Zuchthaus und Ehrverlust verurteilt, Lutz zu Jahren. Auch Annis Mutter wurde mehrfach von der Gestapo verhört, wusste aber nichts über die illegale Arbeit ihrer Tochter. Nach dem Urteil gegen ihre Tochter brachte sich Annis Mutter um.

Die Haft verbrachte Anni im Zuchthaus Lübeck und Frauenzuchthaus Jauer, wo sie Zwangsarbeit verrichten musste. Nach ihrer Entlassung im Mai 1943 kehrte sie nach Berlin zurück. Bis 1945 stand sie unter Beobachtung der Gestapo.

Aber alle vier Wochen mußte ich mich weiter bei der Gestapo melden. Ich sollte Berichte bringen. Ich wurde gefragt, ob ich bei Bekannten gewesen war, mit wem ich mich getroffen habe. Ich habe geantwortet: „Erstmal gehe ich arbeiten. Außerdem ist meine Mutter gestorben, ich muß meinen Vater noch versorgen. Und durch den Fliegeralarm, ich bin einfach nicht dazu gekommen. Ich wäre ja ganz gerne ‚mal auf Besuch gegangen. (…) Jedes Mal, wenn ich zur Gestapo gegangen bin, hatte ich meinen Koffer (…), was man sonst so braucht, dabei. Denn ich wußte ja nie, ob ich wieder nach Hause gehen durfte. Mir wurde damit gedroht: „Wenn Du nichts bringst, dann gehörst Du noch nicht in die Freiheit.

Nachkriegsjahre

Anni und Lutz heirateten 1945 nach seiner Rückkehr nach Kreuzberg. Er starb jedoch bereits Anfang 1948 an den schweren Haftfolgen. Anni trat in die SED in West-Berlin ein und engagierte sich nach ihrer Gründung in der VVN-BdA in West-Berlin. Aufgrund ihrer Betätigung für eine kommunistische Vereinigung erhielt sie erst 1960 eine Entschädigung. Anni Wendel starb am 23.7.2002 in Berlin.

Mein lieber guter Lutz!

Unser Maß an Kummer war noch nicht voll. Es geht gar nicht in meinen Kopf, dass wir so viel Leid durchmachen müssen. Meine Mutter ist tot. Ich weiß nicht, ob sie verunglückt ist? Ich will nicht hoffen, dass sie ihr Leben selbst beendet hat. Mit ihren Nerven war sie ja vollständig runter durch die Sorgen um uns. Ich hatte mich mit meiner eigenen Strafe schon abgefunden. Meine Sorge galt nur Dir. Nun müssen wir noch größeres Leid durchmachen. Ich habe solche Angst um meinen Vater, keiner der für ihn sorgt. Du weißt, wenn er Arbeit hat, finden sich immer welche ein zum Trinken, und dann nichts Richtiges im Magen. Der Widerstandsfähigste ist er auch nicht mehr. Ich habe die letzte Nacht nicht geschlafen, aber ich will mich bezwingen, alles zu ertragen und nur nicht krank werden … Ich kann es noch nicht fassen. Sie war doch nicht krank und keine häuslichen Sorgen. Ich habe ihr doch am Dienstag gesagt, wir wollen alle recht tapfer sein, was auch kommen mag. Nun ist alles vorbei. Lieber guter Lutz, mach Dir meinetwegen keine Sorgen, ich muss und komme durch und hoffe auf eine gute Zukunft … Sei recht herzlich gegrüßt und geküsst jetzt noch mit großen Weh Deine nur Dich liebende

Anny

Anni Wendel (re) mit der Künstlerin Monika Sieveking vor ihrem Portrait. Foto: Jürgen Henschel
Anni Wendel 1992. Foto: Stefan Krause
Anni Wendel mit ihrer besten Freundin Gertrud Häger (links). Foto: Stefan Krause

Die Biografie über Anni Wendel basiert auf Recherche und Material von Claudia von Gélieu/Frauentouren

BVVdN (Hrsg.): Widerstand in Berlin 1933 – 1945

Claudia von Gélieu: Frauen in Haft. Gefängnis Barnimstraße. Eine Justizgeschichte (Zitate)

Zeitzeuginnengespräche mit Claudia von Gélieu

Kunstamt Kreuzberg: Kreuzberg 1933. Ein Bezirk erinnert sich (Zitate)

Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Kreuzberg

VVN-VdA: Antifaschistischer Stadtplan Kreuzberg