Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte Lokal
1) Marzahner Promenade 55: Widerstand in den Ortsteilen Kaulsdorf, Biesdorf und Mahlsdorf
Den Bezirk Marzahn-Hellersdorf gab es in der NS-Zeit noch nicht, die Großsiedlung Marzahn ist erst zu DDR-Zeiten gebaut worden. Aber in den bereits existierenden und zu Lichtenberg gehörenden Ortsteilen Alt-Marzahn, Hellersdorf, Kaulsdorf, Biesdorf und Mahlsdorf gab es Widerstand, auch von Frauen.
Seit 1940 lebte die Arbeitersportlerin Martha Butte, geb. Riedel mit ihrem Mann in Kaulsdorf. Ihre Wohnung war ein wichtiger Treffpunkt ihrer Widerstandsgruppe.
In Mahlsdorf engagierte sich die Jungsozialistin Anni Schostag gemeinsam mit ihrem Mann Paul ab 1933 illegal für die SAJ. Sie beteiligte sich an der Verbreitung illegaler Schriften und malte antinazistische Losungen an Hauswände und Bretterzäune.
Die sieben Biesdorferinnen Henriette Bernert (1864), Herta Bernert (1908) Franziska Bickel (1886), Charlotte Kröhning (1906), Minna Pribbenow (1884), Else Remane (1909) und Marta Unger (*1882) lebten in der Paradiessiedlung und unterstützten nach Beginn des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeitende be der Reichsbahn in Biesdorf mit Lebensmitteln. Sie wurden 1940 festgenommen, im Oktober in einem Prozess angeklagt, aber freigesprochen. In der Anklageschrift stand: „Ende Juni 1940 wurden französische Kriegsgefangene zu Arbeiten an der S-Bahn-Linie in der Nähe der Paradies-Siedlung in Biesdorf eingesetzt. Schon nach wenigen Tagen entwickelte sich ein reger Verkehr von Einwohnern der Siedlung mit den Kriegsgefangenen, der als anstößig empfunden wurde und ein Einschreiten des politischen Leiters erforderlich machte. Den Gefangenen wurde nicht nur beim Wasserholen und bei Gefälligkeitsarbeiten Lebensmittel und Zigaretten zugesteckt; verschiedentlich wurden ihnen sogar in Eimern und Körben oder Beuteln solche Waren auf den Arbeitsplatz gebracht und unter sie teils mit, teils ohne Billigung der Wachtposten und teils durch die Wachtposten selbst verteilt.“
In Biesdorf lebten ebenfalls Else Ledetsch geb. Häusler (1891-1976) und ihr Tochter Gisela Reissenberger geb. Ledetsch (1913-2000). Else stammte aus Schlesien, heiratete 1916 den Juden Rudolf Ledetsch und trat für ihn zum Judentum über. Im gleichen Jahr wurde ihr Sohn geboren. Erna brachte ihre Tochter Gisela in die Ehe ein, die erst in den 1930ern erfuhr, dass Rudolf nicht ihr leiblicher Vater war. Nach dem „Gesetz zur Widerherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde Rudolf entlassen und die Familie zog aufgrund finanzieller Probleme von Friedrichshain nach Biesdorf. Gisela war vor 1933 im kommunistischen Jugendverband (KJVD) aktiv und als Schauspielerin am Theater tätig. Nach der Machtübertragung übermittelte sie geheimes Material. 1934 wurde sie verhaftet, aber aufgrund ihres jungen Alters freigelassen. Sie erhielt zwei Jahre Berufsverbot und stand unter Polizeiaufsicht. 1943 versteckten Elsa und Gisela Jüdinnen und Juden und unterstützten sie mit Lebensmitteln. Seit 2020 erinnern in Biesdorf Straßen an Ledetsch und Reissenberger.
3) Marzahner Promenade 55: Skulpturen zur Erinnerung
Als „Denkmal für Kommunisten und antifaschistische Widerstandskämpfer“ wurde 1991 vor dem Freizeitforum Marzahn ein Skulpturen-Ensemble installiert: „Die Geschlagene“, „Die sich Aufrichtende“ und „Der sich Befreiende“. Sie stammen von der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger geb. Franck (1915-2009), die die öffentliche Ausschreibung gewonnen hatte. Auf kleinen Bronzetafeln im Boden, die die drei Plastiken miteinander verbinden, ist zu lesen: „gehängt“ / „gekämpft“ / „geliebt“ / „verbrannt“ / „vergessen“ / „gesiegt“ / „gefoltert“ / „getreten“/ „geschlagen“ / „befreit“ / „zerbrochen“. Von Hunzinger gibt es mehrere Skulpturen in Berlin. Ihr bekanntestes Werk ist das Denkmal „Frauenprotest in der Rosenstraße“. Dass Frauen mehr als zweitausend jüdische Angehörige retteten, rückte sie damit ins öffentliche Bewusstsein. Verfolgung und Widerstand in der NS-Zeit spielen auch in Hunzingers weiterem Schaffen eine wichtige Rolle, da sie damit auch ihre eigenen Erfahrungen verarbeitete. Ihre Mutter war Jüdin. Vor Verfolgung schützte sie ihr Ehemann, dessen Arbeit als Chemiker die Nazis brauchten. Hunzingers Bruder wurde als Mitglied einer linken Studentengruppe 1933 ins KZ Oranienburg verschleppt und emigrierte danach. Sie selbst gehörte einer kommunistischen Jugendgruppe an. Als Jüdin und Kommunistin wurde sie von der Berliner Kunstakademie ausgeschlossen und setzte ihre Ausbildung zur Bildhauerin in Kunstwerkstätten fort. 1939 ging Hunzinger nach Italien. Dort lernte sie den Maler Helmut Ruhmer kennen, durfte ihn aber nicht heiraten, weil sie jüdische Abstammung war. Ab 1942 lebte Hunzinger mit ihm in einer Ferienhütte im Schwarzwald und bekam zwei Kinder. Nach dem Tod ihres Mannes an der Ostfront verdiente sie den Lebensunterhalt für ihre Familie mit der Herstellung von Keramiken. Töpfern hatte sie beim Vater von Cato und Mietje Bontjes van Beek gelernt. Ende 1949 zog sie mit ihrem neuen Ehemann Adolf Hunziger wegen des erstarkenden Antikommunismus in Westdeutschland nach Ost-Berlin. Sie bekam ein drittes Kind, ließ sich bald scheiden und wurde Meisterschüleri an der Akademie der Künste. Um ihre künstlerische Eigenständigkeit zu bewahren, entschied sie sich als freischaffende Künstlerin zu arbeiten.
3) Viktor-Klemperer-Platz: Kein Erinnern an Eva Klemperer
Seit Mai 2006 ist der Platz nach dem jüdischen Literaturwissenschaftler und Politiker Viktor Klemperer (1880-1960) benannt. Berühmt wurden seine Tagebücher aus der NS-Zeit, in denen er seine Erlebnisse schilderte. Geschützt war er durch seine 1906 geschlossene Ehe mit der Malerin und Pianistin Eva Klemperer geb. Schlemmer (1882-1951). Nach der Hochzeit gab sie ihre eigene Arbeit auf, um ihn zu unterstützen. Ab 1935 versuchte das Ehepaar vergeblich zu emigrieren, ab 1940 lebten sie in einem „Judenhaus“ in Dresden. Eva Klemperer trug maßgeblich dazu bei, dass Viktors Tagebücher erhalten sind und nicht der Gestapo zum Opfer fielen. Sie versteckte die Skizzen unter ihren Notenblättern und brachte sie in sichere Verstecke. Die großen Bombenangriffe auf Dresden verhinderten die anstehende Deportation des Ehepaars, doch wurde ein Teil ihrer Noten und seiner Tagebücher zerstört. „Sie ist die so unendlich Begabtere und nichts von ihr bleibt“, schrieb Victor Klemperer in seinem Tagebuch über seine Frau.
4) Lea-Grundig-Straße 1: Eine jüdische Künstlerin im Exil
In der Neubau-Großsiedlung Marzahn wurde 1981 eine Straße nach der Malerin Lea Grundig geb. Langer (1906-1977) benannt. Sie stammte aus einer strenggläubigen jüdischen Familie, die aus Polen zugewandert war und in Dresden lebte. Gegen den Willen des Vaters begann sie eine Ausbildung als Künstlerin. 1926 trat sie der KPD bei. Künstlerisches Wirken und politisches Agieren verband sie in ihren Darstellungen von Arbeiter:innen. In einem Kreis linker junger Künstler:innen lernte sie Hans Grundig kennen, den sie 1928 heiratete. In ihrer Autobiografie schrieb sie:
Januar 1933. An den Fenstern erschienen Hakenkreuzfahnen, und Extrablätter schrien das Neue: Hitler war Reichskanzler geworden, von Hindenburg berufen. Wie ein Taumel ergriff es die Stadt. Brüllende Umzüge marschierten, Braunhemden ohne Zahl. Sie trugen ihr johlendes Triumphgeheul durch alle Straßen, und wer am Wege stand und nicht den Arm hob, wurde angerempelt oder verprügelt. Die Fackeln im Zuge trugen, ahnten nicht, dass sie damit die Häuser der anderen und dann ihr eigenes in Brand setzen würden. Sie glaubten, es seien die Leuchten eines neuen tausendjährigen Reiches der Gerechtigkeit. Und sie glaubten, das werde so herrlich sein, dass man es mit dem Blute anderer nicht zu hoch bezahle. Und sie zahlten. Jeder Tag brachte entsetzliche Neuigkeiten. Geheim trafen wir uns mit anderen Genossen. Hast Du schon gehört? Der ist verhaftet, und den hat man im Volkshaus erschlagen, dieser sitzt und jener wurde geholt. Von diesem Mord un diesem Totschlag, von jenem Foltern und jenen Menschenjagden flüsterte man. Hast du gehört? Diesem darfst du nicht trauen und den sah man den Arm heben. Und die andre. Mit dem du gestern noch vertraut gesprochen, der konnte dich morgen denunzieren.
Nach 1933 setzte Grundig sich mit ihren Radierzyklen „Unterm Hakenkreuz“, „Der Jude ist schuld“ und „Krieg droht!“ mit der NS-Diktatur, antisemitischer Hetze und Kriegsvorbereitung auseinander. Nach vier Verhaftungen wurde sie 1939 nach einer Verurteilung wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ unter der Bedingung entlassen, sofort zu emigrieren. Als sie nach dem Ende des Kriegs erfuhr, dass Hans das KZ überlebt hatte, versuchte sie aus Israel nach Deutschland zurückzukommen, was erst 1949 gelang. An der Hochschule für Bildende Künste in Dresden wurde sie 1950 die erste Professorin. Von 1964 bis 1974 war sie Präsidentin des Verbands der Bildenden Künstler der DDR. Ihrer Darstellung des durch die NS-Verbrechen verursachten Leids blieb dagegen bis kurz vor ihrem Tod die öffentliche Anerkennung versagt. Nicht die Shoa, sondern der Widerstand gegen den Faschismus war in der DDR zentral im offiziellen Gedenken.
5) Alt-Marzahn: NS-Zwangsarbeit in der Landwirtschaft
Auf dem heutigen Gebiet von Marzahn-Hellersdorf gab es ab 1936 etwa 30 Zwangsarbeitslager, in denen Zivilisten und Kriegsgefangene untergebracht waren. Ende 1944 waren es etwa 10.000 Menschen auf einem Gebiet, das damals ungefähr 50.000 Einwohner hatte. 1936 wurden im Vorfeld der Olympischen Spiele in Berlin etwa 600 in Berlin lebende Sinti und Roma auf Befehl de Polizeipräsidenten aufgegriffen und in ein Lager am Parkfriedhof Marzahn eingesperrt, darunter Kinder. Ab 1938 mussten sie Zwangsarbeit in den landwirtschaftlichen Betrieben im mittelalterlichen Angerdorf Alt-Marzahn leisten. Nach Kriegsbeginn wurden hier osteuropäische Zwangsarbeiter:innen eingesetzt. Ihre Erlebnisse schilderte Maria Kirillwona Tereschtschenko 2002: „Die Lebensbedingungen unerträglich nennen kann ich nicht, Hunger hatten wir nicht. Die Arbeit ohne Hoffnungsschimmer, das Leben in der Baracke, die ständige Furcht, sich irgendwas zu Schulden kommen zu lassen, die beängstigenden Schmerzen in den Gelenken durch die ständige Unterkühlung, das alles tat seine Wirkung.“ Sie floh nach zwei Jahren, wurde aber verhaftet und in das KZ Ravensbrück gebracht.