Influencerin im Widerstand

Zum Abgewöhnen: Sophie Scholl als Influencerin

@ichbinsophiescholl lieferte die popkulturelle Darbietung einer der wenigen Personen, die versucht hatte, über die Gräueltaten des NS-Regimes zu informieren. Was man dem Instagram-Projekt immerhin zugutehalten kann: Es hat die Debatte um Erinnerungskultur wieder neu
entfacht. 

Das von Südwestrundfunk und Bayerischem Rundfunkinitiierte und von Vice produzierte Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ sorgte spätestens im Februar 2022 für hitzige öffentliche Debatten. Auf dem Kanal @ichbinsophiescholl konnten Instagram-Nutzer*innen bis hierhin die nachgestellten letzten zehn Monate von Sophie Scholl (09.05.1921-22.02.1943), der Widerstandskämpferin der Weißen Rose, gespielt von der Schauspielerin Luna Wedler, in Stories und Beiträgen mitverfolgen.

Das Projekt wollte Geschichte lebendig vermitteln – und das kam bei sehr vielen gut an. Hundertausende folgten dem Kanal, vergaben Likes, teilten die Beiträge und kommentierten die aufwendig produzierten Videos. Doch trotz der Beliebtheit wurde das Projekt auch stark kritisiert, vor allem da es das Problem mit deutscher Erinnerungskultur offenbarte: Es reproduziert deutsche Opfermythen und folgt Entlastungserzählungen, die das Ausmaß der Täterschaft der fast gesamten deutschen Bevölkerung verdecken oder sogar leugnen.

Kein Volk von Widerstandskämpfern

In der Wochenzeitung Jungle World wurde schon zu Anfang des Projekts darauf hingewiesen („Entlastung und Erinnerung“): „Präsentiert wird hier die Geschichte eines Volks von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen oder wenigstens Unzufriedenen, die das Ende des Nationalsozialismus herbeisehnen. Der Realität entspricht das nicht: Der Nationalsozialismus war bis zuletzt eine „Zustimmungsdiktatur.“

Auch der „Übermedien“-Blog hatte seit Beginn des Projekts den Instagram-Kanal beobachtet – und zieht am Ende das Fazit: „Lernen, wie man es nicht machen sollte“. Die Journalistin Nora Hespers beschreibt hier auch, wie die Projekt-Redaktion mit der Kritik umgegangen ist, nämlich „zögerlich und am liebsten gar nicht“. Was bleibt, sei eine verwaschene und verzerrte Darstellung der Wirklichkeit. Juden und Jüdinnen spielen übrigens in den Stories keine Rolle, weder als Opfer noch als Akteure des Widerstands selbst. 

Eigentlich waren sie selbst die Opfer

In den letzten Jahren wurde der Kreis der angeblichen Opfer der Nationalsozialisten erweitert. Es behaupten immer mehr Menschen, ihre Vorfahren hätten eigentlich nicht viel mit dem NS anfangen können. Das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld hat 2019 im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft die zweite MEMO-Studie vorgelegt, den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor. Darin geben fast 36 Prozent der 1 000 Befragten an, ihre Vorfahren waren unter den Opfern jener Zeit und knapp 29 Prozent denken sogar, dass ihre Vorfahren potentiellen Opfern im Nationalsozialismus geholfen hätten.

Als wäre nicht längst belegt, dass nur ein verschwindend geringer Teil der Deutschen Juden oder anderen Verfolgten geholfen, geschweige denn aktiv im Widerstand gegen den NS gearbeitet und gekämpft hat. Tatsächlich waren es wenige Nullkomma-Prozent. „Die Geschichte wird nicht nur vergessen, sie wird verdreht, verhöhnt“ – heißt es bei Zeit Online über digitale Erinnerungskultur.

Party-Girl im Widerstand

Ein weiteres Problem ist, dass die Follower*innen das Gefühl bekommen, sich intensiv mit dem Thema Nationalsozialismus auseinandergesetzt zu haben. Ob das Anschauen der Stories und Reels allerdings zu einer historisch oder moralisch richtigen Einordnung des Widerstands führt oder gar dazu, sich inhaltlich weiter mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, bleibt fraglich. Popularität sollte dabei jedenfalls nicht das Hauptanliegen sein, erst recht nicht auf Kosten der historischen Wahrheit. Denn in dem halbfiktiven Format wird die Instagram-Sophie zum Party-Girl, nimmt Drogen, packt ihren Koffer für die Zugfahrt, teilt ein Suppenrezept – inklusive der anteilnehmenden Kommentare wie bei einer aktuellen Influencerin: „Genieß die Zeit, Sophie“.

Im Grunde ist es keine schlechte Idee, den Widerstand Deutscher auch popkulturell zu verarbeiten. Aber es zeigt sich, dass es letztlich nur scheitern kann, historische Figuren über die Quellen hinaus sprechen zu lassen, ihnen Worte oder Verhalten anzudichten. Anhand der Originalquellen hätte sich zeigen lassen, wie ungewöhnlich die Widerständigen nämlich waren, wie isoliert unter den Millionen begeisterten NS-Anhänger*innen. Gleichzeitig hätte auch der Antisemitismus der Weißen Rose deutlich thematisiert werden können.

Auf der Suche nach den guten Deutschen

Schließlich ist Antisemitismus nach wie vor eine Gefahr für Juden und Jüdinnen. Die sogenannten Querdenker inszenieren sich ganz offen als Opfer und fantasieren sich in den Wahn, die aktuelle BRD sei eine Diktatur – und bekommen durch die allgemeine Entlastungskultur noch Auftrieb und Bestätigung.

Aber auf der Suche nach Identifikationsfiguren und den „guten Deutschen“ gilt: „Solang die Mehrheit das Projekt geil findet, muss es ja gut sein. Ein Konzept, das schon 1933 zu höchst zufriedenstellenden Ergebnissen geführt hat“ – wie TV-Entertainer Jan Böhmermann feststellt. Er hatte dem Instagram-Projekt eine ganze Sendung seines ZDF Magazin Royal gewidmet. Das Motto: „Wir Täter waren ja auch irgendwie hauptsächlich Opfer.“

„Wann haben Sie das letzte Mal an Nationalsozialismus gedacht? Über die Hälfte aller Deutschen denkt da nämlich nicht so gerne dran und würde am liebsten einen „Schlussstrich“ unter das Thema ziehen.“

Jan Böhmermann erklärt von Minute 4:39 bis 27:42 im ZDF Magazin Royale vom 18. Februar 2022, was am Instagram-Kanal @ichbinsophiescholl problematisch ist.

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