Neukölln

Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte lokal

1) Karl-Marx-Straße 141: Heimathafen Neukölln

1876 eröffnete in der heutigen Karl-Marx-Straße 41 der Saalbau als Lokal für die Rixdorfer Bürgerschicht. Seit 1899 wurde das Gebäude für Theatervorstellungen genutzt, ab 1914 als Rixdorfer Stadttheater, nach Ende des Ersten Weltkriegs von der Filmfirma UFA als Lichtspielhaus und von politischen Gruppen als Theaterstätte. 1930 trat eine Gruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) Neukölln hier auf. Ab 1941 diente das Gebäude als Lager für Möbel und Hausrat deportierter Neuköllner Jüdinnen und Juden, die günstig an die Bevölkerung versteigert wurden. Nach Ende des Kriegs wurde der Saalbau zunächst weiterhin als Möbellager genutzt.

2) Karl-Marx-Straße 131: Das „Passagelager“ als Unterkunft für Zwangsarbeitende

1909 eröffnete mit dem Lichtspielhaus „Excelsior“ in Rixdorf das vermutlich erste Kino in einem Arbeiterviertel. Hier befand sich auch die für die Verwaltung des Stadtbads Neukölln in der Ganghofer Straße zugehörige Bezirksverwaltung.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden in deren Räumlichkeiten, im „Passagelager“, 40 polnische, tschechische und ab 1941 auch sowjetische Zwangsarbeitende untergebracht, die für die Stadtverwaltung Zwangsarbeit leisten mussten. Die genaue Tätigkeit ist nicht bekannt. In Neukölln gab es etwa 181 Unterkünfte für Zwangsarbeitende, die meistens in unmittelbarer Nähe der Unterkunft Zwangsarbeit leisten mussten. Noch 1983 wurde in der Neuköllner BVV behauptet, es hätte in Neukölln keine Zwangsarbeitslager gegeben.

Lagerdatenbank NS-Zwangsarbeit

3) Richardstraße 104: Galerie Olga Benario

Seit 2001 befindet sich hier die Galerie Olga Benario, die 1984 von der VVN in der Boddinstraße mit einer Ausstellung über die Kommunistin und sowjetische Geheimagentin Olga Benario (1908-1942) eröffnet wurde. Die aus einem jüdisch-sozialdemokratischen Elternhaus stammende Benario zog 1925 von München nach Neukölln, um sich im kommunistischen Jugendverband für die Interessen von Arbeiter:innen zu engagieren. Nach der Befreiung ihres Genossen Otto Braun aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit 1928 floh sie in die Sowjetunion und erhielt dort eine militärische Ausbildung. 1935 begleitete sie den brasilianischen Kommunisten Luis Carlos Prestes als seine Beschützerin nach Brasilien, um die brasilianische Revolution zu starten, doch der Aufstand scheiterte. 1935 wurde sie als bekannte Kommunistin verhaftet und trotz internationaler Proteste hochschwanger an Nazi-Deutschland ausgeliefert. Nach der Geburt ihrer Tochter im Frauengefängnis Barnimstraße wurde sie in das KZ Ravensbrück überführt und 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg ermordet.

In den ersten Ausstellungen in der Galerie berichteten Zeitzeug:innen über ihre Widerstandstätigkeiten. Darunter war neben Gertrud Skubich auch Marie Müller.

4) Ganghofer Straße 3: Stadtbibliothek Neukölln

Bis 1961 befand sich hier die Stadtbibliothek, die sich unter der Leiterin Helene Nathan (1885-1940) zu einer Bibliothek entwickelte, in der ausgebildet wurde. Nathan wollte insbesondere Mädchen aus Arbeiterfamilien die Ausbildung zur Bibliothekarin ermöglichen – so wie Elli Fuchs gesch. Ziegler. Nachdem Nathan nach der Machtübertragung als Jüdin und politisch aktive Frau entlassen wurde, versuchte sie sich als Buchhändlerin in einem jüdischen Buchladen über Wasser zu halten. Ende der 1930er scheiterte ihr Versuch nach Großbritannien zu emigrieren wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs. Aufgrund der zunehmenden Verfolgung und der ausweglosen Lage nahm sich Nathan 1940 das Leben.

5) Ecke Karl-Marx- und Erkstraße: Sexualberatungsstelle

Die sozialdemokratische Ärztin Käte Frankenthal (1899-1976) war Stadtverordnete und arbeitete ab 1928 als Ärztin in der Sexualberatungsstelle im Rathaus Neukölln. Geprägt von ihren Erfahrungen, setzte sie sich als Abgeordnete dafür ein, dass in den bezirklichen Sexualberatungsstellen kostenlose Verhütungsmittel herausgegeben wurden und für die Abschaffung der Bestrafung
von Abtreibungen über den 1871 eingeführten Paragrafen 218 des Strafgesetzbuchs. Nach´ der Machtübertragung wurde Frankenthal Mitte März beurlaubt, dann entlassen. Wegen ihrer jüdischen Herkunft und ihrer politischen Aktivitäten wurde sie verfolgt und emigrierte Ende März 1933 in di USA. Dort schrieb sie ihre Erinnerungen auf.

Die Sexualberatungsstellen in den Bezirken, auch die in Neukölln, wurden von den Nationalsozialisten in „Rasseberatungsstellen“ umgewandelt. Ab Mitte der 1930er Jahre wurde hier die Verleihung der Mutterkreuze und Zwangssterilisationen organisiert.

6) Rathaus Neukölln: Verfolgte Bezirkspolitikerinnen

Nordneukölln gehörte neben Friedrichshain, Teilen von Kreuzberg, Prenzlauer Berg und Wedding zu den Arbeitervierteln, geprägt von den typischen Berliner Mietskasernen. Vor 1933 wurde hier traditionell politisch links gewählt. Die beiden großen Arbeiterparteien SPD und KPD bekamen hier bei Wahlen zur BVV, SVV und zum Reichstag zusammen über 50 Prozent der Stimmen. Von den weiblichen Neuköllner Abgeordneten wurden einige in der NS-Zeit verfolgt und engagierten sich im Widerstand. Darunter war die Sozialdemokratin und bezirkliche Frauenbeauftragte Marie-Auguste Barthel, ihre Parteikollegin Anna Bormann, die Sozialdemokratin und spätere Kommunistin Lina Jurchen sowie die Kommunistinnen und Gewerkschafterinnen Anna Rathmann und Marie Wolter.

Autorin: Trille Schünke-Bettinger