Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte Lokal
1) Potsdamer Straße 172b: Versammlungen und Zwangsarbeit
Seit 1910 stand an dieser Stelle der Berliner Sportpalast, in dem bei Sportveranstaltungen wie dem Sechstagerennen 10.000 Besucher:innen Platz fanden. In der Weimarer Republik fanden hier zunehmend politische Versammlungen und Großkundgebungen von Parteien und Gewerkschaften statt. Am Sportpalast spielte sich am 15. April 1931 der Höhepunkt des Protests gegen den Paragraph 218 ab. Der Strafparagraph verbot Abtreibungen ab 1871, seit 1917 waren sie nur aus medizinischen Gründen erlaubt. Für Millionen Frauen und Familien bedeutete dies mit jeder unerwünschten Geburt zusätzliche Armut, da sie ihre vielen Kinder nicht ernähren konnten. Verhütungsmöglichkeiten setzten Geld und Wissen voraus, viele Frauen hatten beides nicht. Illegale oder heimliche Abtreibung wurde mit Gefängnis geahndet, viele Frauen verloren bei eigenen Abtreibungsversuchen mit Seifenlauge oder Cyankali ihr Leben.
Frauen organisierten sich gemeinsam mit Ärztinnen und Schriftstellerinnen zu Demonstrationen und Protestmärschen in ganz Deutschland. Sie forderten die Abschaffung des „Schandparagrafen“, wie sie ihn nannten, und die Entlassung der Ärztin und Feministin Else Kienle (1900-1970) aus der Haft, zu der sie wegen der Durchführung „gewerbsmäßiger Abtreibung“ verurteilt worden war. Kienle erzwang mit einem siebentägigen Hungerstreik ihre Freilassung un sprach auf der Kundgebung am Sportpalast vor über zehntausend Menschen. Sie nahm weiterhin Abtreibungen vor und floh im Herbst 1932 vor erneut drohender Verhaftung nach Frankreich und Ende der 1930er in die USA.
Die KPD und SPD hielten ihre letzten großen Versammlungen vor ihrem Verbot im Februar und Juni 1933 im Sportpalast ab. Eine Versammlung der nationalsozialistisch orientierten Deutschen Christen Ende 1933 besiegelte eine Kirchenspaltung. Bekanntheit erlangte der Sportpalast als zentraler Veranstaltungsort für NS-Propaganda-Veranstaltungen. Hier hielt Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Februar 1943 die berühmte Rede, in der er die treuen deutschen NSDAP-Anhänger im Publikum fragte: „Wollt ihr den totalen Krieg?“, was sie bejahten und ihm frenetisch zujubelten. Ruth-Andreas Friedrich beschrieb die angeheizte Stimmung im Sportpalast in ihren tagebuchartigen Aufzeichnungen: „Warum begreifen nur so wenige die wahren Zusammenhänge unserer „Ja‘s‘ im Sportpalast? Den Jubel der Spaliermacher, die Ovationen bei allen Bonzenreden, das Siegheilrufen der Reichstagsabgeordneten, die lärmende Volkszustimmung bei jeder Naziveranstaltung? Sämtliche staatlich bestellten Gesinnungskontrolleure des deutschen Volkes sind dafür verantwortlich, dass bei offiziellen Anlässen nur Ja-Sager antreten. Jeder politisch Unzuverlässige, jeder auch nur im Geringsten der Möglichkeit des Nein-Sagens Verdächtige ist in solchen Fällen fernzuhalten.“ 1938 gründete Andreas-Friedrich zusammen mit anderen die Widerstandsgruppe Onkel Emil, bezeichnet nach ihrem Tarnruf als Zeichen für Gefahr, in der auch ihre Tochter Karin Friedrich aktiv war.
Hier befindet sich auch ein Hochbunker, der ab 1943 von Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion erbaut wurde, die in der nahe liegenden Königlichen Augustaschule für Mädchen untergebracht waren. Nach der Evakuierung der Schule aufgrund des Beginns der Bombardierung Berlins 1943 durch die Alliierten, wurde ein Barackenlager für Zwangsarbeitende und ihre Familien eingerichtet. Kurze Zeit nach der Befreiung wurde sie als erste Schule in Deutschland nach der Münchener Widerstandskämpferin Sophie Scholl (1921-1943) benannt.
2) Winterfeldtstraße 19: Altes Post- und Fernmeldeamt
Die lesbische Aktivistin und Widerstandskämpferin Hilde Radusch (1903- 1994) war eine von vielen Frauen, die am Beginn der Weimarer Republik den starren traditionellen Frauenrollen der Provinz entfloh, um sich in der Großstadt ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Sie arbeitete seit April 1923 hier im Fernmeldeamt als Telefonistin, nachdem sie ihre Ausbildung als Erzieherin am Pestalozzi-Fröbel-Haus abgeschlossen hatte, aber keine Arbeit fand, wahrscheinlich weil sie Kommunistin war.
In der NS-Zeit gab es im Fernmeldeamt eine illegale Betriebszelle der KPD, der auch Irene Jurr geb. Wisbar (1901-1991) angehörte, die hier von 1920 bis als kaufmännische Angestellte arbeitete.
3) Schwerinstraße 13: Treffpunkt der queeren Community im Topp-Keller
Die 1920er Jahre brachten Homosexuellen im Schöneberger Nollendorfkiez dahin ungeahnte Freiheiten und Möglichkeiten, offen zu ihrer sexuellen Orientierung zu stehen. Von 1924 bis 1930 war der Toppkeller einer der vielen Treffpunkte und Tanzlokale für lesbische Frauen. Die jüdische Künstlerin Gertrude Sandmann (1893-1981) erinnerte sich später daran als „etwas Einmaliges“, wo sich „die „Dame von der Straße“ genauso wie die „Dame der Gesellschaft“ trafen: „Der große Saal voller Frauen: Tanz, laute Musik, unvergessliche Stimmung der Lebenslust, Gemeinsamkeit und Freiheit.“ Auch Hilde Radusch besuchte neben prominenten Künstlerinnen wie der Sängerin Claire Waldoff (1884-1957) oder der Tänzerin Anita Berber (1899-1928) den Toppkeller. Die kreative, politische und ausgelassene lesbische Berliner Subkultur mit ihren Vereinen, Bällen, Zeitschriften und Ausstellungen wurde gleich zu Beginn des NS-Regimes zerschlagen und verboten. Es blieben kaum Räume, in denen Homosexuelle sich noch heimlich weiter treffen konnten.
4) Eisenacher Straße 11-14: Gedenkort für Hilde Radusch
Am letzten Wohnort von Hilde Radusch hat das Netzwerk von Geschichtsforscherinnen Miss Marples Schwestern den bisher einzigen deutschlandweiten öffentlichen Gedenkort für eine lesbische Frau erstritten. Seit Juni 2012 stehen hier drei Tafeln aus Emaille mit einer Bank davor, die an die Telefonistin, Betriebsrätin, KPD-Stadtverordnete, Verfolgte im Nationalsozialismus und Aktivistin der Frauen- und Lesbenbewegung erinnern.
5) Eisenacher Straße 26/27: Wohnung von Gerda Lissack
6) Karl-Schrader-Straße 7-8: Sozialpädagogische Bildung
Die Stiftung Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH) ist Träger einer Erzieherfachschule und verschiedener sozialpädagogischer Einrichtungen. Als eine der ältesten deutschen Ausbildungsstätten für soziale Berufe hat das PFH die Professionalisierung der Erwerbsarbeit von Frauen im sozialen Dienstleistungsbereich maßgeblich vorangebracht. Das ist unmittelbar verknüpft mit der jüdischen liberalen Sozialreformerin Alice Salomon (1872-1948) und der von ihr 1908 gegründeten Sozialen Frauenschule. Die Zeit der Kindheit wurde seitdem nicht mehr als Zwischenstufe zum Erwachsenwerden begriffen, sondern als eine eigenständige Lebensphase, die einer speziellen Förderung bedarf. Salomon promovierte 1906 über die Ungleichheit der Löhne zwischen Männern und Frauen, unterstützte Schulgründungen und baute internationale Netzwerke zur akademischen Weiterbildung für Frauen auf. 1925 gründete sie die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ mit einer eigenen Abteilung für empirische Forschung, deren erste Vorsitzende und Herausgeberin einer Schriften- und Forschungsreihe sie war. Die Akademie wurde 1933 aufgelöst, jüdische und „nichtarische“ Lehrkräfte wurden entlassen. Salomon wurde 1937 nach Verhören durch die Gestapo zur Emigration nach New York gezwungen.
Im Hof erinnert eine Gedenktafel an sie.
7) Ecke Eisenacher- und Rosenheimer Straße: Die Familie des Schauspielers Michael Degen
Der deutsch-israelische Schauspieler Michael Degen (1928-2022) wurde 192 als Kind des jüdischen Ehepaars Jacob und Anna Degen geb. Rudolf (1906-1975) geboren. Seit 1933 lebte die Familie in Berlin, zunächst in Moabit, später in Schöneberg. Jacob Degen wurde 1939 von der Gestapo verhaftet und starb im Februar 1940 nach der Entlassung aus dem KZ Sachsenhausen im Jüdischen Krankenhaus an den Folgen von Misshandlungen und Folter. Anna organisierte für sich und Michael – der andere Sohn Adolf emigrierte 1939 nach Palästina – illegale Pässe und entging der Verhaftung im Rahmen der „Fabrikaktion“ im Februar 1943. Bis zum Kriegsende versteckten sich die Degens und waren dabei auf Unterstützer:innen angewiesen. Unter diesen war Charlotte „Lona“ Furkert, die bereits Ende der 1930er Jahre als Geschäftspartnerin von Jacob Degen in dessen Textilgeschäft einstieg, es später offiziell allein weiterführte, aber den Gewinn weiterhin mit Anna Degen teilte. Anna und ihre Söhne überlebten die NS-Zeit. Michael Degen erinnerte sich später:
Sie riss mir die Sterne vom Mantel und Jacke, tat bei ihrem Kostüm dasselbe, und wir rannten an der Küche vorbei zur Wohnungstür. Und dann kamen sie. Unmöglich zu überhören, mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln. Wir hörten sie weiter hochsteigen und an die Toren donnern, während wir im Parterre ausstiegen. An der Haustür standen Männer in Uniform, und Mutter ging sofort auf sie zu: ,Was ist denn hier los?‘ Der Mann fixierte uns nur kurz, sagte nicht unhöflich, aber bestimmt: ,Gehen Sie weiter!‘. Die Rosenheimer Straße in Berlin-Schöneberg war eine von jüdischen Menschen stark bewohnte Straße und man holte sie aus verschiedenen Häusern heraus. Einige offene Lastautos mit kurzen Treppchen davor standen bereit, und die Menschen – Männer, Frauen, Kinder – wurden grob in die Wagen getrieben. Ich zog meine Mutter weg. Ich hatte plötzlich große Angst.
8) Grunewaldstraße 78: Charlotte Uhrig und Marie Kirst
In Haus lebten zwischen 1945 und 1946 Charlotte Uhrig (1907-1992) und ihre Eltern Bernhard und Marie Kirst (1884-1958).