Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte Lokal
1) Rathaus Spandau: Verfolgung von Bezirkspolitikerinnen
In Spandau und Steglitz bekam die NSDAP vor 1933 die meiste Zustimmung bei Wahlen. Als Garnisonsstadt und durch die hier ansässige Rüstungsindustrie war der Bezirk lange militärisch geprägt. An der Zitadelle Spandau, einer Festung aus dem 16. Jahrhundert nordöstlich der Altstadt, ist das nach wie vor sichtbar. Die Demilitarisierung nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte negative wirtschaftliche Folgen für die Bevölkerung und führte trotz starker linker Arbeiterparteien auch bei Arbeiter:innen zu reaktionären und nationalistischen Einstellungen. Hieran knüpfte die NSDAP an, die in Spandau unter der Leitung des späteren Reichspropagandaminister Joseph Goebbels 1925 ihren „Kampf um Berlin“ startete. Dazu gehörte, dass NSDAP und SA in Spandau schon vor der Machtübertragung 1933 zahlreiche Stützpunkte aufgebaut hatten und ihre politischen Gegner:innen auskundschafteten und drangsalierten.
Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gab es in Spandau besonders viele Verhaftungen und Verschleppungen in SA-Folterkeller und frühe Konzentrationslager. Mit der Übernahme der Bezirksverwaltungen Mitte März 1933 wurden zahlreiche Angestellte entlassen, darunter die Lehrerin Margarete Panten. Die Sozialdemokratin Gertrud Müller (1911-1992), die seit 1930 als Fahrkartenverkäuferin bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) arbeitete, wurde entlassen, weil sie 1926 in die SAJ und 1929 in die SPD eingetreten war. Von 1945 bis 1966 arbeitete sie wieder bei der BVG, zuletzt als Zugabfertigerin. 1946 wurde sie zur Kreisfrauenleiterin der SAJ gewählt, ab 1948 gehörte sie der Spandauer BVV an, 1961 bis 1963 als Vorsitzende der Parteifraktion. Von 1949 bis 1954 und von 1963 bis 1971 war Müller Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
Viele Kommunalpolitiker:innen wurden nach der Machtübertragung verfolgt. Dazu gehörten auch die beiden Spandauerinnen Gertrud Hanna und Emma Thomas.
Frauen wurden nicht nur aus politischen oder rassistischen Gründen entlassen, die Nazis lehnten ihre Erwerbstätigkeit grundsätzlich ab. Das änderte sich mit der Vorbereitung und dem Beginn des Kriegs. Die wehrpflichtigen Männer wurden nach und nach zur Wehrmacht einberufen und durch weibliche Hilfskräfte ersetzt. Oft nahmen die Ehefrauen die Plätze ein, die ihre Männer zuvor innehatten. Zur Kriegsvorbereitung gehörte auch, dass in Spandau ab 1935 Frauen in die Feuerwehr aufgenommen und als Luftschutzwartinnen ausgebildet wurden.
2) Am Wall 3: Gedenktafel für den Widerstand
Rechts neben dem Rathaus Spandau war früher eine Polizeistation, im Februar 1933 zog die SA in das Gebäude ein. Hierher wurden politische Gegner:innen gefoltert, was bei Frauen auch Massenvergewaltigungen bedeutete. Zu den misshandelten Frauen gehörte die Jüdin und Sozialdemokratin Hilde Braunthal (1903-2001). Die Pädagogin leitete in Spandau ab Ende der 1920er Jahre innerhalb der SPD die sozialistische Erziehungsorganisation Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde, die Gruppenspiele, Wanderungen und Zelten für Kinder organisierte. Kinder galten als gleichberechtigt und sollten hier demokratische Selbstbestimmung üben. Als Jüdin doppelt verfolgt, emigrierte Braunthal nach Belgien und von dort 1936 in die USA.
3) Breitestraße 1: Das T4-Programm der Nazis
Hedwig Daum (1899-1939) lebte hier mit ihrem Ehemann und ihren fünf Kindern. Ende 1937 wurde sie in die Wittenauer Heilstätten eingewiesen, eine psychiatrische Klinik, in der Patienten gequält und ermordet wurden. Nach der Diagnose Schizophrenie im Mai 1938 im Rudolf-Virchow-Krankenhaus wurde sie zwangssterilisiert und einen Monat später erneut nach Wittenau gebracht. Am 29. Mai 1939 wurde sie im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet. Ein Stolperstein erinnert an sie.
4) Fischerstraße 2: Wohnung von Else Sternberg
Die Jüdin Else Sternberg (1901-1985) ließ sich von ihrem ersten Ehemann scheiden, um ihn vor der Verfolgung zu schützen. Nachdem ihr zweiter Ehemann, mit dem sie in der Fischerstraße wohnte, deportiert worden war, beschloss sie im November 1942 unterzutauchen Sie fand ein Versteck beim Ehepaar Gertrud und Otto Flieger in der Ackerstraße 26 in der Spandauer Neustadt, das dort in einer 1,5-Zimmer-Dienstwohnung auf dem Gelände der Tischlerei Pache wohnte, für die Otto als Hausmeister tätig war. Sternberg überlebte die NS-Zeit und engagierte sich in Spandau in der VVN.
5) Lindenufer 6: Mahnmal für die Judenverfolgung
Seit 1988 steht am Lindenufer das Mahnmal für die Spandauer Opfer der Shoa in der Nähe der Stelle, an der sich die Synagoge befand, die bei den Novemberpogromen 1938 in Brand gesetzt und zerstört wurde. Die Namen der Opfer sind in die geschwungene rote Backsteinwand eingraviert. An erster Stelle steht Frieda Arnheim.
Charlotte Friedenthal (1892-1973), die ab 1936 als Sekretärin der Leitung der Bekennenden Kirche eng mit Albertz zusammengearbeitet hatte, gelang 1942 dank ihrer Kontakte zum Theologen Dietrich Bonhoeffer und seinen familiären Verbindungen zum militärischen Widerstand als vorgebliche deutsche Agentin die Flucht in die Schweiz. 1933 wegen ihrer jüdischen Herkunft als Geschäftsführerin der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit entlassen, hatte sie zusammen mit der Sozialfürsorgerin Marga Meusel (1897-1953), die das Evangelische Bezirksgemeindeamt Zehlendorf leitete, Hilfe für Verfolgte organisiert. Marianne Albertz (1891-1977) setzte die illegale Arbeit ihres Ehemannes, die sie seit 1933 unterstützte hatte, während dessen Haftzeit selbständig fort.
6) Lindenufer 1: Mutterkreuz und Bund Deutscher Mädel
In dem einstigen Gebäude an dieser Stelle befand sich bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ein Offizierskasino, danach wurde es als Jugendtreff und in der NS-Zeit auch vom Bund Deutscher Mädel (BDM) genutzt. Vera Gottier (*1933) wurde 1944 verpflichtet einzutreten, obwohl ihre Mutter Jüdin war. Sie erinnert sich an die BDM-Treffen: „Ich bin eigentlich nicht ungern gegangen. Die Indoktrination, das fand ich nicht schön, doch zum Sport bin ich gerne gegangen. Es war auch der einzige Ort, wo ich Kinder in meinem Alter hatte, mit denen ich spielen konnte.“ Auch nach der Scheidung vom nicht-jüdischen Ehemann galten Gottiers Mutter und Vera als „mischjüdisch privilegiert“. Das schützte sie vor behördlicher Verfolgung, aber nicht vor antisemitischen Angriffen. Daher hatte Vera auch keine Spielkamerad:innen.
Hier fand auch 1939 die erste „Mutterkreuz“-Verleihung in Spandau statt. Die „Spandauer Zeitung“ berichtete: „Insgesamt kamen im Spandauer Verwaltungsbezirk 1.018 Ehrenkreuze zur Verteilung, und zwar 275 Kreuze erster, 306 Kreuze zweiter und 434 Kreuze dritter Klasse.“
7) Markt 4-5: Boykott und Plünderung jüdischer Geschäfte
Die NSDAP hatte für den 1. April 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzleien, Banken und Arztpraxen aufgerufen. In Spandau verteilte die SA ein Flugblatt, in dem sie darüber informierte, welche Geschäfte von jüdischen Besitzer:innen betrieben wurden – allein in der Breitestraße 15 die Keksbäckerei von Gertrud Bergmann, Hausnummer 21 das Kaufhaus Sternheim, 37 Spielwaren von Hertha Freund und die Garnisonsapotheke sowie 52 Damenhüte und Strümpfe Haase.
Clara Nansens Geschäft stand im SA-Boykott-Aufruf, obwohl sie keine Jüdin war. Es reichte, dass ihr Ehemann als Jude galt. Bei den Novemberpogromen gehörte ihr Geschäft am Markt zu den vielen, die in Spandau zerstört und geplündert wurden. Sie erinnerte sich später: „Wir sahen und hörten, wie Zivilisten Frauen zuriefen: ‚Steckt euch alles von den Juden ein, denen muss alles weggenommen werden!‘ Sämtliche Schaufenster meines Geschäfts waren total zerstört, von den Auslagen wurden mehrere Mäntel und Kleider gestohlen, der Rest wurde durch Glassplitter zerrissen und wurde somit unverkäuflich.“ Aufgrund des großen Drucks, der auf Nansen ausgeübt wurde und um ihr Geschäft zu retten, ließ sie sich nach der Pogromnacht von ihrem jüdischen Ehemann scheiden. Das Geschäft sorgte für den Lebensunterhalt von beiden. Georg Jansen, der bis 1933 als Abteilungsleiter beim Kaufhaus Karstadt gearbeitet hatte, war seitdem arbeitslos. Nach der Scheidung lebten die beiden offiziell nicht mehr zusammen, aber er besuchte sie regelmäßig in ihrer Wohnung in der Jüdenstraße 30/32. Ende 1940 wurden beide von Nachbar:innen angezeigt. Nach den Nürnberger Gesetzen von 1935 galten Beziehungen mit Juden und Jüdinnen als „Rassenschande“ und waren strafbar. Am 29. Dezember 1940 drang die Polizei in die Wohnung der Nansens ein. Georg, der versuchte, über den Balkon im 3. Stock zu flüchten, wurde erschossen. Im Prozess 1948 wurde der Polizist, der Georg getötet hatte, ebenso wie zwei der Denunzianten freigesprochen. Der Polizist hatte angeblich in Notwehr gehandelt. Lediglich eine weitere Denunziantin wurde wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.
8) Breitestraße 20: Geburtshaus von Jenny Wiegman
Die Eltern von Jenny Wiegmann (1895-1969), später Genni Mucchi-Wiegmann, betrieben eine Konditorei in der Breitestraße und wohnten auch dort. Wiegmann ließ sich an der Kunsthochschule Charlottenburg als Malerin ausbilden und heiratete 1920 den Kollegen Bernhard Müller-Oerling. Die beiden spezialisierten sich auf die Renovierung und künstlerische Gestaltung von Kirchen. Ab Ende der 1920er Jahre arbeitete das Paar in Italien. Dort ließ Wiegmann sich scheiden, um 1933 den ebenfalls künstlerisch tätigen Italiener Gabriele Mucchi zu heiraten. In Italien betätigte sich Jenny Wiegmann zusammen mit ihrem zweiten Ehemann im antifaschistischen Widerstandskampf gegen den faschistischen Diktator Benito Mussolini. Nach der deutschen Besetzung Italiens 1943 unterstützten Mucchi und Wiegmann Partisan:innen. In seinen Memoiren schildert Mucchi, dass Wiegmann Transporte für die Partisan:innen übernahm. In ihrem Fahrkorb schmuggelte sie versteckt unter Gemüse Bomben und Waffen. 1959 bekam Wiegmann den Auftrag, in Bologna ein Denkmal für die gefallenen Partisan:innen zu schaffen.
Autorin: Claudia von Gélieu