Kreuzbergerinnen zwischen Verfolgung und Widerstand - Frauen und die Machtübernahme der Nazis
Gisela Notz und Trille Schünke von der VVN-BdA aus Friedrichshain-Kreuzberg führten am 06. März anlässlich des bevorstehenden Frauenkampftags bei einem Kiezspaziergang durch Kreuzberg.
Gemeinsam mit vielen interessierten Teilnehmer*innen haben die beiden Historikerinnen Gisela Notz und Trille Schünke Orte im Kiez besucht, an denen Widerstandskämpferinnen gelebt haben. Los ging es um 14 Uhr am Denkmal für Maria Juchacz am Mehringplatz.
1. Station: Denkmal für Marie Juchacz
Die Politikerin Marie Juchacz (15.03.1879 – 28.01.1956) war eine der bedeutendsten Frauenrechtlerinnen und Sozialdemokratinnen ihrer Zeit. Ihr zu Ehren gibt es in Berlin-Kreuzberg Nähe Hallesches Tor ein Denkmal. Es wurde 2017 eingeweiht und zeigt Marie Juchacz im Seitenprofil – so soll sie von jedem erkannt werden. Ob das gelungen ist, lässt sich diskutieren.
Gisela Notz berichtete, dass der Künstler und Gestalter des Denkmals, Gerd Winner, bei der Einweihung sagte, „ihr Bildnis durchbricht im Zentrum der Skulptur die massive Stahlwand“ und sei „erst im Dialog mit den Strukturen der sie umgebenden Natur in der Durchsicht erfahrbar.“ Anwesend und abwesend zugleich soll sie dargestellt werden. Manche sagen, man sähe sie lächeln.
Deutlicher zu erkennen sind die fünf Grundwerte der von Marie Juchacz gegründeten Arbeiterwohlfahrt Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Toleranz und Solidarität. Das Gelände zwischen dem heutigen Mehringplatz, der alten Jacobstraße und der Lindenstraße in Berlin-Kreuzberg war der historische Sitz von sozialdemokratischen Einrichtungen in Berlin, wie es auf der Platte im Gehweg vor dem Denkmal zu lesen ist.
Proteste gegen hohe Preise
Am heutigen Mehringplatz – von 1815 bis 1946 Belle-Alliance-Platz – hatte auch ein Vorläufer der organisierten Frauenbewegung ihren Ursprung. Im Vorfeld der Revolution von 1848, in der sich Frauen erstmals öffentlich organisierten, kam es auch am 21. April 1847 zu spontanen Demonstrationen von überwiegend Frauen. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln waren zuvor aufgrund einer Missernte im Vorjahr und einer damit einhergehenden Lebensmittelknappheit drastisch gestiegen. Das nahmen die Frauen nicht hin und starteten an diesem Tag einen Demonstrationszug in die Stadt, über die heutige Friedrichstraße bis Unter den Linden. Die Unruhen gingen als Kartoffelunruhen in die die Geschichte ein, sind heute aber kaum bekannt.
2. Station: Hallesches Ufer 32
Von hier ging es zum damaligen Sitz der Schule der Arbeiterwohlfahrt. Hier berichtete Gisela Notz auch über Ida Wolff, Politikerin und Gewerkschafterin. Sie wurde nach 1933 von den Nazis verhaftet, konnte aber überleben und unterstützte nach 1945 die Wiedergründung der SPD, unter anderem zusammen mit Louise Schröder und war Abgeordnete für Kreuzberg im Westberliner Abgeordnetenhaus.
3. Station: Rathaus Kreuzberg
Am Standort des heutigen Rathaus Kreuzberg war von 1926 bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 eine Wohlfahrtseinrichtung des Jugendamts, das von Zeitzeug:innen so genannte „Jugendheim“. Hier konnten junge Erwerbslose wohnen und sich weiterbilden, berichtete der ehemalige Leiter und SPD-Mitglied Alwin Jabs nach 1945. Außerdem wurde das Jugendheim auch als Treffpunkt genutzt, unter anderem vom kommunistischen Jugendverband, von den Jungsozialisten, Gewerkschaftsgruppen, aber auch christlichen Jugendgruppen. Nach 1933 diente das Jugendheim als Treffpunkt für die Hitlerjugend und den Bund deutscher Mädel.
4. Station: Wohnung von Ursula Goetze
Die vierte Station war am ehemaligen Wohnhaus von Ursula Goetze (1916-1943), Widerstandskämpferin und Mitglied der Roten Kapelle, die ab 1936 gemeinsam mit ihren Eltern hier lebte. Die Eltern waren ab 1937 meistens außer Haus, da sie ein Hotel in der Hedemannstraße übernahmen und dort auch wohnten. So hatte Ursula Goetze die Wohnung überwiegend für sich allein. Sie hatte schon in jungen Jahren Kontakte zum kommunistischen Jugendverband und beteiligte sich schon kurz nach der Machtübernahme an Aktionen gegen die Nazis. Beim Verteilen von Flugblättern vor der Schule wurde sie 1934 das erste Mal verhaftet, kam aber nochmal davon. Während ihres Abiturs, das sie von 1938 bis 1940 an einer Privatschule in Schöneberg nachholte, lernte sie Gleichgesinnte kennen, darunter Eva-Maria Buch, Liane Berkowitz und Eva Knieper.
Die Schultreffen gerieten immer mehr zu politischen Gesprächskreisen, wie Eva Knieper in einem Zeitzeug:innengespräch erzählte. Sie war die einzige Schulfreundin Ursula Goetzes, die überlebte. Zu dem Kreis gehörte auch Eva Kniepers Freund John Rittmeister, 41 Jahre alt, Nervenarzt in Wittenau – und Gegner Hitlers. 1941 kam dieser Kreis in Kontakt mit Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. Ursula Goetze übersetze Flugblätter in andere Sprachen. Mehrfach traf sich die Gruppe auch in der Wohnung in der Hornstraße 3 in Kreuzberg.
Im Visier der Gestapo
Am 17. Mai 1942 klebte Ursula Goetze zusammen mit Werner Krauss Flugblätter in Schöneberg am Sachsendamm. Sie trugen die Aufschrift: „Das Naziparadies. Krieg Hunger Lüge Gestapo. Wie lange noch“. Dies war eine Protestaktion gegen die antisowjetische Ausstellung „das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten. Da war die Gestapo der sogenannten Roten Kapelle bereits auf den Fersen. Es war ihr gelungen, einen vor längerer Zeit abgehörten Funkspruch zu entschlüsseln und zuzuordnen.
Nachdem die Verhaftungswelle mit der Verhaftung von Harro Schulze-Boysen im Juni 1942 begann, geriet auch Ursula Goetze ins Visier der Gestapo. Sie wurde am 15. Oktober 1942, dem Geburtstag ihrer Mutter, in Köslin verhaftet und bis zum Prozess im Januar 1943 in verschiedenen Gefängnissen in Berlin inhaftiert. In einem geheimen Prozess am 18. Januar 1943 wurde Ursula Goetze mit weiteren Angeklagten der Roten Kapelle vom Reichsgericht wegen Hochverrats und Feindbegünstigung zum Tode verurteilt.
Bis zu ihrer Hinrichtung verging noch mehr als ein halbes Jahr. Am 5. August 1943, während Bombenangriffen auf Berlin, wurde Ursula Goetze mit weiteren Mitgliedern der Roten Kapelle, darunter unter anderem Hilde Coppi, Liane Berkowitz, Eva-Maria Buch, Cato Bontjes van Beek in der NS-Hinrichtungsstätte hingerichtet. Heute erinnert an ihrem alten Wohnhaus in der Hornstraße seit 1987 eine Gedenktafel an das Leben und Wirken von Ursula Goetze. Sie wurde im Rahmen des Kreuzberger antifaschistischen Gedenktafelprogramms enthüllt und zeigt das Profil von Ursula Goetze.
5. Station: Hornstraße 23
In der Hornstraße 23 wohnten drei Schwestern jüdischer Abstammung, Charlotte und Gertrud Arnhelm und Jenny Stein in einem sogenannten „Judenhaus“. In der Zeit von 1933 bis 1945 wurden mehr als 2000 antiüdische Gesetze und Ergänzungen erlassen, die bis in die privatesten Bereiche des Lebens vordrangen. Eines davon war das am 30. April 1939 erlassene „Gesetz über Mietverhältnisse mit Jüd:innen“. Es hob den Mieterschutz für die jüdische Mieterschaft auf. Das Gesetz kam aus der Bevölkerung mit ihrer antisemitistischen Grundstimmung.
Jüdische Mieter:innen und Hauseigentümer:innen mussten nun wohnungslose Juden und Jüdinnen in ihren Wohnungen aufnehmen. So entstanden in der Folge sogenannte Judenwohnungen und ganze Judenhäuser im gesamten Reich und mitten in Berlin, unter anderem in der Hornstraße 23. Die drei Schwestern wurden im Februar 1943 an ihren Arbeitsstellen – sie mussten Zwangsarbeit leisten – verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Sie haben nicht überlebt. Zu ihrer Erinnerung sind vor dem Haus Stolpersteine verlegt.
6. Station: Methfesselstraße
Die letzte Station führte uns zu einer Gedenktafel am Kreuzberg. In der Methfesselstraße hängt eine Tafel für den jüdischen Widerstandskämpfer, Überlebenden des KZ Sachsenhausen und Maler Wolfgang Szepansky. Wer hier allerdings fehlt, ist seine Frau Gerda. Auch wenn die Tafel ungefähr an der Stelle hängt, an der Wolfgang Szepansky 1934 „Nieder mit Hitler – es lebe die KPD“ schrieb.
Nach 1945 lernte er seine Frau Gerda, geborene Lange kennen. Gerda Szepansky (1925-2004) stammte selbst aus einem Arbeiterhaushalt, bezeichnete sich aber nicht selbst als widerständig. Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins wurde beiden der Schuldienst verwehrt. Gerda Szepansky widmete sich der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und insbesondere den Frauen im Widerstand. Sie veröffentlichte mehrere Bücher, Ausstelllungen, hielt Lesungen, Stadtrundfahrten zum Widerstand. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie eine wertvolle Zeitzeugin und Beobachterin.
Lehrverbot für Widerständler
Trotz dessen durften die Szepanskys bis 1987 offiziell keine Schulen betreten. Heute erinnert, neben der Tafel für Wolfgang, seit 2021 eine kleine Promenade in Tempelhof-Schöneberg, die Gerda-und-Wolfgang-Szepansky-Promenade, an die beiden.
Hier endete der Kiezspaziergang. Trotz der winterlichen Kälte blieben die vielen Teilnehmer:innen bis zum Schluss, hörten aufmerksam zu und stellten viele Fragen.