Tegel

Ein Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte lokal

1) Am Borsigturm 11: Widerstand in der Rüstungsproduktion

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Tegel ein Industriestandort. In den 1930er Jahren gab es hier zur Kriegsvorbereitung viel Rüstungsindustrie, im Zweiten Weltkrieg viel Zwangsarbeit. Zwei Arbeitersiedlungen sind heute keine mehr: Die Freie Scholle in Tegel existierte seit 1895 und die Werkssiedlung Borsigwalde. In beiden Siedlungen wurde überwiegend links gewählt, später auch die NSDAP. Viele der Bewohner:innen wurden durch „Schutzhaft“ daran gehindert, ihr Wahlrecht bei den Märzwahlen 1933 wahrzunehmen. In der Freien Scholle hörte die Pädagogin Emma Bartsch 1944 zusammen mit anderen „Feindsender“ ab und verbreitete die Nachrichten durch Flugblätter.

Das Werk des Maschinenbau-Unternehmens Borsig in Tegel zur Herstellung von Dampfloks wurde 1898 eingeweiht. Mitte der 1930er Jahre wurden die Hallen vom Düsseldorfer Rüstungsunternehmen Rheinmetall übernommen und ab 1942 hier Kriegslokomotiven produziert. In den Borsig-Werken befand sich während des Kriegs ein Außenlager des KZ Sachsenhausen für 550 Gefangene, darunter auch Frauen.

2) Am Borsigtor: Stolpersteine für die Gruppe Mannhart

Auf dem Radweg in der Nähe des Borsigtors, dem ehemaligen Eingang zum Werksgelände von Rheinmetall-Borsig, liegen 13 Stolpersteine, für einige Mitglieder der „Gruppe Mannhart“, die Ende 1943 aufgeflogen sind und verhaftet und zum Teil hingerichtet wurden. Darunter waren auch Zwangsarbeitende, die hier während des Kriegs in der Rüstungsproduktion eingesetzt wurden. Der Name der Gruppe kommt daher, dass ihr Wunsch war zu „kämpfen hart wie ein Mann“. Anders als die Stolpersteine suggerieren, haben in der Mannhart-Gruppe Frauen eine wichtige Rolle gespielt. Das Ehepaar Max und Maria Klesse aus Heiligensee hatte sie gegründet.

Mitglieder der Gruppe waren auch: Hilde Schneider und ihr Mann Hans, die ein jüdisches Mädchen versteckten; Elisabeth von der Biesen und die Verkäuferin Ina Hindrichsen (1887-1967), die wegen ihrer Arbeit für die RHD bereits im Gefängnis saß. Ab November 1942 war die Gruppe in Rüstungsbetrieben aktiv. Es schlossen sich Arbeiter der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik an, sodass die Flugblätter in deren Hausdruckerei hergestellt werden konnten. Baukolonnen agitierten und informierten auch die Zwangsarbeiter:innen in den Betrieben. Käthe Mammach (*1903), die als Telefonistin in einer Flugschule arbeitete, verfasste Flugblätter für die Gruppe bei Borsig. Ebenfalls in der Gruppe aktiv war Sophie Klesse, Max Klesses zweite Ehefrau. Nach der Verhaftung und Hinrichtung von Gruppenmitgliedern am 25. September 1944 konnte ein Großteil unerkannt weiterarbeiten. Die Verhafteten schwiegen trotz Folterungen und verrieten die anderen nicht. Ein wichtiger Teil der Arbeit gerade in den letzten Kriegstagen war die Verhinderung weiterer Zerstörungen durch die SS und die Sicherheit der Lebensmittelversorgung. So verhinderten Gruppenmitglieder die Sprengung der Tegeler Mühle. Sie wollten auch weiteres Töten und Gewalt bei der Einnahme Nordberlins verhindern: Max Klesse ritt im April 1945 zusammen mit seinem Kollegen Wladimir Lindenberg mit weißen Fahnen der sowjetischen Armee entgegen.

3) Schlieper Straße 12: Schneiderei von Erna Hilgenfeld als Versteck für Jüdinnen

Die Jüdin Ella Heidemann (1895-1990) konnte der Verhaftung im Zuge der „Fabrikaktion“ im Februar 1943 entkommen. Sie hatte im Vorfeld von den Verhaftungen gehört und war nicht bei der Arbeit erschienen. Nach Stationen als Wirtschafterin bei einem älteren Herrn, der von ihr sexuelle Dienstleistungen erwartete, und als Obdachlose wurde sie von April bis Dezember 1943 von dem Ehepaar Hilgenfeld versteckt. Erna Hilgenfeld versteckte Heidemann in ihrer Schneiderei in einer Nische, die mit einem Vorhang versehen war. Von 1944 bis Kriegsende verbrachte Heidemann bei einem Lehrer in Tegel, der von den Hilgenfelds mit Lebensmitteln und anderem unterstützt wurde. Als sie von den Flüchtlingstrecks der Deutschen aus dem Osten erfuhr, verließ sie ihr Versteck und mischte sich unter die Ankommenden. Sie erfand für die Behörden eine Geschichte, wurde registriert und bekam einen legalen Status in Deutschland. Blond und blauäugig, wie sie war, gab es keine Schwierigkeiten. Später emigrierte sie in die USA, wo sie hochbetagt starb. Ihre Tochter emigrierte 1938 nach Shanghai, ihr Sohn wurde im jüdischen Krankenhaus verhaftet und in einem Konzentrationslager ermordet.

4) Wilkestr. 1: Treffpunkt der „Ernsten Bibelforscher“ bei Hedwig Müller

Die Anhängerin der Internationalen Bibelforschervereinigung (IBV) Hedwig Müller (*1883) versteckte in ihrer Wohnung in der Wilkestraße geheime Kuriere ihrer Glaubensgemeinschaft. 1937 wurde sie wegen ihrer Aktivitäten festgenommen und für sechs Monate im Frauengefängnis Barnimstraße inhaftiert. Nach ihrer Entlassung war sie vermutlich weiterhin illegal aktiv und hielt Kontakt zu anderen Mitgliedern der IBV. Die Gruppe traf sich auch auf der Greenwichpromenade mit Blick auf den Tegeler See.

5) Egellstraße 7A: Wohnung von Frieda Wagenknecht

Die gelernte Dekorateurin Frieda Wagenknecht wohnte in der Egellstraße 7a. Sie hatte Kontakt zu einem KPD-Funktionär, der Anweisungen des Exilvorstands nach Berlin brachte, und wurde 1940 verhaftet. Wagenknecht wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt, erkrankte dort an Tuberkulose und wurde als haftunfähig entlassen. Im Jahr 1943 starb sie infolge der im Gefängnis erlittenen Misshandlungen. Mit ihr aktiv war Elisabeth Walter.

6) Seidelstraße 23: Funkversuche nach Moskau

Südlich der Borsig-Werke, schräg gegenüber der Justizvollzugsanstalt Tegel, befindet sich die Kleingartenkolonie Am Waldessaum. Am Rand dieser Anlage, in der Ecke Seidel- und Flohrstraße, hatte die Familie Coppi eine Wohnlaube. Die Familienmitglieder waren in der KPD. Hans Coppi war Schüler auf der reformorientierten Schulfarm Scharfenberg und schloss sich Anfang der 1930er dem kommunistischen Jugendverband an. Bereits 1934 erstmals wegen Verbreitung illegalen Materials verhaftet und zu einem Jahr Jugendhaft verurteilt, schloss er sich nach seiner Entlassung erneut seinem Scharfenberger Freundeskreis an, ab 1939 gehörte er einem Widerstandskreis der Roten Kapelle an. Für deren Widerstandstätigkeit wurde die Wohnlaube der Familie Coppi als Funkstation eingerichtet, was aufgrund von technischen Schwierigkeiten nicht funktioniert hatte. Hans‘ Mutter Frieda Coppi (1884-1961) hatte 1935 in der Flohstraße eine Eisdiele eröffnet, die auch als illegaler Treffpunkt diente. 1940 lernten sich Hans und Hilde Rake kennen und heirateten ein Jahr später.

In Lichtenberg ist eine Straße nach den Coppis benannt. Von 1945 bis 1948 hieß die Hatzfeldallee in Tegel Hans-und-Hilde-Coppi-Allee, bis diese Ehrung im Kalten Krieg nicht mehr opportun war, da beide Coppis zum kommunistischen Widerstand gehörten. 2024 erscheint mit „In liebe, eure Hilde“ ein Film über Hilde Coppi des Regisseurs Andreas Dresen, an dem auch ihr Sohn Hans mitgewirkt hat.

Autorin: Gundula Schmidt-Graute