Wedding

Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte lokal

1) Gerichtstr. 37: Ehemaliges Krematorium und Urnenfriedhof

Im Kaiserreich und während der Weimarer Republik war der Wedding eine Hochburg der Arbeiter:innenbewegung. In den 1920er Jahren wählten über zwei Drittel der Anwohner linke Parteien. Insbesondere in der Seestraße, wo seit den 1860er Jahren sogenannte Mietskasernen entstanden waren, in denen hunderttausende Arbeiter:innen und Arbeitslose auf engstem Raum lebten, unterstützte eine Mehrheit die KPD. Abseits der Partei- und Gewerkschaftspolitik organisierten sie sich in Genossenschaften, Sport- und Kulturvereinen. Sie schufen Strukturen und knüpften Netzwerke. In diesem Milieu leisteten Menschen bereits früh kollektive Formen von Widerstand gegen die erstarkende nationalsozialistische Bewegung. Auch nach der Machtübertragung führten einige ihren Widerstand fort. Illegal und unter ständiger Bedrohung versuchten sie die Inhalte und Strukturen der Arbeiter:innenbewegung weiterzutragen. Sie schmuggelten Informationen und verteilten Flugblätter, sammelten Spenden, unterstützten Zwangsarbeitende und versteckten Verfolgte.

Am heutigen Ort des Urnenfriedhof Gerichtstraße wurde 1828 der erste städtische Friedhof Berlins eingeweiht. Bis dahin waren die innerstädtischen Friedhöfe konfessionell angelegt und arme Menschen wurden überwiegend in Friedhöfen vor der Stadt bestattet. Ein Jahr nach der Einführung der Feuerbestattung wurde hier 1912 das erste Krematorium eröffnet und ein Teil des alten Friedhofs für Urnen genutzt. Neben historisch bekannten Personen wie die Sozialistin und Frauenrechtlerin Ottilie Baader (1847-1925) und der Vorsitzende des Freidenkerverbandes Max Sievers (1887-1944), sind hier auch bisher unbekannte Weddinger:innen bestattet worden. Das Krematorium neben dem Friedhof wurde 2000 geschlossen und wird heute als Kulturquartier genutzt.

Zu denen, die andere durch ihr Schweigen geschützt haben, gehörten die Weddinger Freundinnen Anna Schünke und Charlotte Weißkopf. Schünke wohnte ab Ende der 1930er Jahre in der Ruheplatzstraße 18 am hinteren Ende des Urnenfriedhofs zusammen mit ihrem Mann Wilhelm (1897-1973), ihrem Stiefsohn und ihren Schwiegereltern. Ihr Mann, der Mitglied der KPD war, wurde Anfang der 1940er Jahre zur Wehrmacht eingezogen. In der Zeit war Schünke für die Familie allein verantwortlich und erzog ihren Stiefsohn wie ihr eigenes Kind. Außerdem unterstützte sie Angehörige von politischen Häftlingen. Nach 1945 war sie Mitglied in der VVN und im DFD. Nach ihrem Tod wurde sie auf dem Urnenfriedhof neben Wilhelm beigesetzt. Das Grab existiert nicht mehr. Weißkopf hatte nach eigenen Angaben Kontakte zu Ella Trebe und erhielt von ihr auf dem Wochenmarkt in der Müllerstraße Informationen und illegale Schriften. Nach 1945 war sie Mitglied der SED und engagierte sich als Zeitzeugin.

2) Antonstraße 4: Wohnung von Gertrud Tesch

3) Nettelbeckplatz: (K)ein Erinnern an Ella Trebe

Bis 1950 erinnerte auf dem Nettelbeckplatz ein Gedenkstein an Ella Trebe. Den Stein gibt es nicht mehr, stattdessen seit 2006 eine Straße am Hauptbahnhof und seit 2009 ein Stolperstein in der vor ihrem letzten Wohnhaus in der Togostraße 78.

4) Weddingstraße 9: Das Sängerheim als Treffpunkt des Roten Frontkämpferbunds

Gegenüber der Kösliner Straße, die als Wohnort besonders vieler KPD-Mitglieder bekannt war, lag in der Weddinger Straße 9 das „Sängerheim“. Die Kneipe war Stammtreff des Roten Frontkämpferbunds. Die in den 1920er Jahren entstehenden politischen Kampfbünde, die auch von Sozialdemokraten und Nationalsozialisten gegründet wurden, waren exklusive Männergruppen. Ihre Mitglieder, von denen viele im Krieg gekämpft hatten, marschierten uniformiert und von Marschkapellen begleitet auf Demonstrationszügen. Anders als andere Kampfbünde hatte der RFB zunächst auch Frauen als Mitglieder aufgenommen. Zahlreiche Beschwerden männlicher Genossen führten jedoch schon bald zu ihrem Ausschluss. Einige der betroffenen Funktionärinnen gründeten die Rote Frauenliga, später Roter Frauen- und Mädchenbund (RFMB). Da die Militanz für die Männer und die Politik für die Partei reserviert waren, hatte der RFMB nur eine vage inhaltliche Ausrichtung und sollte die anti-militaristische Kindererziehung fördern.

Zur offiziellen Vorsitzenden wurde Clara Zetkin ernannt, was aber ein symbolischer Akt war. Die tatsächliche Leitung lag bei Helene Overlach. Im Wedding gründete Rosa Linnemann eine RFMB-Ortsgruppe.

5) Ecke Pank- und Wiesenstraße: Sportplatz des Arbeitersportverein Fichte

Sportvereine waren eine der zentralen Kultureinrichtungen der Arbeiter:innenbewegung. Hier nutzte der Arbeitersportverein (ASV) Fichte einst eine Turnhalle und Margarete Beinlich engagierte sich im Verein.

6) Badstraße 38-39: Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion

Auf dem Gebiet des für das Viertel namensgebenden Gesundbrunnens befand sich das Lager 26, in dem 24 Frauen aus Belgien, Frankreich, den Niederlanden und Dänemark untergebracht waren, die für Siemens und Halske Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion leisten mussten.

7) Koloniestraße 139: Die Konsumgenossenschaft als „Frauenort“

Anhand der Biographien von Ella Trebe, Rosa Linnemann, Margarete Beinlich, Hedwig Schmidt und vielen anderen wird deutlich, dass eine oftmals langjährige Einbindung in die Arbeiter:innenbewegung wichtige Voraussetzung für ihren Widerstand war. Ähnlich wie in katholischen Gemeinden, waren soziale Netzwerke und politisches Weltbild in den Hochburgen der Bewegung besonders stabil. Während Männer innerhalb der Arbeiter:innenbewegung insbesondere in der Parteipolitik von SPD oder KPD aktiv waren, stellten deren Partnerorganisationen, wie die Rote Hilfe ein wichtiges Betätigungsfeld für Frauen dar. Insbesondere Wohltätigkeitsorganisationen und Konsumgenossenschaften waren ein Feld, in dem sie aktiv am Aufbau und an der Gestaltung der Bewegung beteiligt waren. In der Koloniestraße 139 gab es einen Laden der Konsumgenossenschaft (KGB).

Eine der Frauen, die in der KGB aktiv waren, ist die Weddingerin Martha Arendsee (1885-1953). Arendsee wurde 1885 in der Reinickendorfer Straße 46 geboren. Als Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung setzte sie sich 1919 für die Repräsentation von Hausfrauen in der sozialistischen Rätestruktur ein. Von 1925 bis 1930 war sie für die KPD als Abgeordnete im Reichstag, 1929 wurde sie zudem zur Stadtverordneten in Berlin gewählt. Bereits 1933 wurde Arendsee verhaftet und für fünf Monate in das Frauengefängnis Barnimstraße gesperrt. Nach ihrer Entlassung floh sie in die Sowjetunion, von wo sie erst 1945 nach Deutschland zurückkehrte. Nach Kriegsende war sie maßgeblich am Aufbau des Sozialversicherungssystems der DDR beteiligt.

Auch die jüdische Sozialistin Ottilie Pohl engagierte sich in der Konsumgenossenschaft als Vorständin.

8) Soldiner Straße 6: Wohnung von Hedwig Schmidt

9) Stockholmer Straße 29: Textilgewerbe der Familie Fleischmann

Zwei Stolpersteine erinnern an Martin und seine Tochter Sonja Fleischmann, die hier ab 1926 lebten. Martin machte nach dem Abschluss der Volksschule eine Ausbildung zum Damenschneider, die er 1910 beendete. Er war deutschnational eingestellt und diente im Ersten Weltkrieg als Husarenoffizier. 1926 heiratete er Elli Müncheberg (1904-1989). Wenige Wochen danach bekamen sie Zwillinge, ein Kind starb kurz nach der Geburt. Zusammen führten sie einen gut laufenden Textilbetrieb, zeitweise beschäftigten sie bis zu vierzig Näherinnen. Elli, von Beruf Sekretärin, führte dabei die Buchhaltung. Im Nationalsozialismus wurde Martin als Jude verfolgt. Bereits 1934 gingen die Aufträge an den Betrieb der Fleischmanns aufgrund antisemitischer Hetze zurück. 1935 starb Tochter Sonja, nachdem ein Hitler-Jugend-Funktionär ihr vor dem Haus stark in den Unterleib getreten hatte.

Elli wurde mehrfach von der Gestapo vorgeladen, verhört und angehalten, sich von ihrem jüdischen Ehemann scheiden zu lassen. Auch ihr Vater wurde von der Gestapo vorgeladen, hielt aber zu seinem Schwiegersohn. Elli war keine Widerstandskämpferin, entschloss sich aber, anders als viele andere, mit ihrem als jüdisch verfolgten Ehemann verheiratet zu bleiben. Damit nahm sie nicht nur Stigmatisierung und ökonomische Verluste in Kauf, sie setzte sich und ihre Angehörigen auch einem hohen Risiko aus. Durch die Ehe war Martin zwar vor der Deportation geschützt, aber weiterhin Ausgrenzung und Verfolgung ausgesetzt. Ab Herbst 1941 musste er Zwangsarbeit leisten und bis zu zehn Stunden täglich Uniformen der Wehrmacht ausbessern. Am 16. Mai 1944 bekamen die Fleischmanns ihren Sohn Michael. Zwei Monate später wurde Martin nachts von der SS aus seiner Wohnung auf die nahe Soldiner Brücke verschleppt. Er wurde gezwungen, Zeichen von der Brücke zu kratzen, dabei geschlagen und getreten. Er brach zusammen und fiel in die Panke. Martin erlag im jüdischen Krankenhaus seinen Verletzungen. Weil Elli von Nachbarn gewarnt wurde, die SS wolle auch sie und Michael ermorden, versteckten sie sich bis Kriegsende in Brandenburg.

Autorinnen: Trille Schünke-Bettinger und Kena Stüwe