Ein Kiezspaziergang im Rahmen von Widerstandsgeschichte Lokal
1) Kantstraße 79: Ehemaliges Frauengefängnis
Bis 2010 wurde das 1897 errichtete Gebäude als Gericht genutzt, zu dem auch ein großes Gefängnis auf dem Hof gehörte. Während der NS-Zeit diente das Gefängnis als Haftort für Widerstandskämpfer:innen. Ab 1939 waren hier ausschließlich Frauen eingesperrt, seitdem wurde die Haftanstalt als Berliner Frauengefängnis II bezeichnet. Bis 1933 waren alle inhaftierten Frauen im Frauengefängnis I in der Barnimstraße in Friedrichshain untergebracht. Mit Beginn der NS-Zeit wurden so viele Frauen verhaftet, dass die Einzelzelle mehrfach belegt werden mussten und sie in anderen Haftanstalten wie dem Polizeipräsidium Alexanderplatz, der Untersuchungshaftanstalt Moabit und dem Arbeitshaus Rummelsburg untergebracht wurden. Mit Kriegsbeginn 1939 stieg die Zahl der verhafteten Frauen weiter, da nun für sie eine Arbeitspflicht galt. Wer sie nicht erfüllte, wurde ohne Prozess mehrere Monate inhaftiert. Außerdem wurden immer mehr Frauen aus den Besatzungsgebieten in deutsche Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Zu den Häftlingen in der Kantstraße gehörten Frauen unterschiedlicher Weltanschauung und Sozialisation und aller großen Berliner Widerstandsnetzwerke, wie das jüdisch-kommunistische Baum-Kochmann, die kommunistisch geprägten Gruppen Uhrig-Römer sowie Saefkow-Jacob-Bästlein, die Rote Kapelle und der 20. Juli. Unter ihnen waren auch zum Tode Verurteilte. Wurden sie von hier in die Barnimstraße überführt, wussten sie und ihre Mitgefangenen, dass ihre Ermordung in der nah gelegenen Hinrichtungsstätte Plötzensee bevorstand. Bis 1987 wurde die Haftanstalt für weibliche Jugendliche genutzt, 2010 der gesamte Gebäudekomplex an einen privaten Investor verkauft. Proteste, die die Einrichtung einer Gedenkstätte, zumindest aber eine Gedenktafel forderten, hatten keinen Erfolg. In dem vollständig erhaltenen, unter Denkmalschutz stehenden Gefängnisbau eröffnete 2022 ein Hotel. Die Gäste übernachten in den ehemaligen Zellen. Im neu überdachten Gefängnishof wird ein Restaurant betrieben.
Inhaftiert waren hier u.a. Elli Fuchs, Ursula Goetze, Irma Thälmann, Rose Schlösinger, Charlotte Uhrig, Ottilie Pohl, Carmen Fruck, Mildred Harnack, Libertas Schulze-Boysen, Rosemarie Terwiel.
2) Witzlebenstraße 4-10: Reichskriegsgericht
Von 1936 bis 1943 befand sich hier das Reichskriegsgericht, das die höchste Instanz der Wehrmachtsjustiz war und zuständig für Vergehen, die sich gegen den Krieg richteten – bereits kritische Äußerungen galten als „Wehrkraftzersetzung“. 260 Männer wurden verurteilt, weil sie den Kriegsdienst verweigerten, zahlreiche Frauen, weil sie nicht bereit waren, in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. 1942 und 1943 fanden mehr als zwanzig Prozesse gegen achtzig Mitglieder der Roten Kapelle statt. Unter den Angeklagten waren zahlreiche Frauen, 18 wurden hingerichtet. Jedes Urteil in diesen Prozessen musste Hitler vorgelegt und von ihm genehmigt werden. Bei Mildred Harnack-Fish (1902-1943) und Erika von Brockdorff (1911-1943) wurden auf seine Anordnung die Gefängnisstrafen in einem zweiten Verfahren in Todesurteile umgewandelt. Wegen der zunehmenden Luftangriffe auf Berlin wurde der Sitz des Gerichts 1943 nach Potsdam und danach ins sächsische Torgau verlegt.
Von 1951 bis Anfang der 1990er Jahre wurde das Gebäude vom Berliner Kammergericht genutzt. 2005 verkaufte es der Bund an einen privaten Investor, der es zu Luxuswohnungen umbaute. Da die Eigentümer die Anbringung einer Gedenktafel am Gebäude ablehnten, wurde sie mit Genehmigung des Bezirksamts Charlottenburg auf dem Gehweg installiert.
3) Kaiserdamm 107: Propagandaparaden und Empfänge
Der bereits in der Kaiserzeit angelegte Kaiserdamm gehörte zur von den Nazis gebauten Ost-West-Achse, die vom Zentrum Berlins durchs Brandenburger Tor über die Heerstraße führte und Schauplatz zahlreicher nationalsozialistischer Propaganda-Aufzüge war. Dafür wurde die bis dahin zweispurige Fahrbahn auf acht Spuren verbreitert und mit gewaltigen, von Albert Speer entworfenen Kandelabern versehen. Schon im April 1933 wurde der am westlichen Ende liegende heutige Theodor-Heuss-Platz von „Reichskanzlerplatz“ in Adolf-Hitler-Platz umbenannt. Mit Hermann Göring und Joseph Goebbels wohnten auch zwei einflussreiche Nationalsozialisten mit ihren Familien hier: Göring von 1931 bis 1935 am Kaiserdamm 34, Goebbels zog 1931 nach seiner Heirat mit Magda Quandt zu ihr an den Reichskanzlerplatz 3. In dieser hochherrschaftlichen Wohnung gingen fortan die NS-Oberen ein und aus. Zu deren zunehmenden Akzeptanz in bürgerlichen Kreisen trug die sich ganz in den Dienst der NSDAP stellende Hausherrin Magda Goebbels mit Empfängen und Gesellschaften bei, die aus ihrer ersten Ehe mit einem Großindustriellen über entsprechende Beziehungen verfügte. Nach der Machtübertragung avancierte sie zur „ersten Frau im Staate“.
4) Kaiserdamm 100: Schauspielschule von Ilka Grüning und Lucie Höflich
Die Karriere der Schauspielerin Ilka Grüning (1876-1964) begann 1894 mit der Titelrolle in „Fräulein Julie“ am Berliner Residenz-Theater. Seit den 1920er Jahren betrieb sie in ihrer Wohnung am Kaiserdamm zusammen mit ihrer Kollegin Lucie Höflich (1883-1956) eine Schauspielschule. Zu ihren Schülerinnen gehörten die späteren Stars Lilli Palmer (1914-1986) und Inge Meysel (1910-2004). Nach 1933 musste Grüning sich als Jüdin auf ihre Unterrichtstätigkeit beschränken. 1938 emigrierte sie nach Frankreich und 1939 in die USA. Dort wirkte sie in mehreren Anti-Nazi-Filmen mit. Der berühmteste davon war „Casablanca“. Grüning spielte darin eine Emigrantin, die versuchte, Englisch zu sprechen – quasi sich selbst. Höflich wurde 1933 Direktorin der Staatlichen Schauspielschule in Berlin, sie wirkte in NS-Propaganda-Filmen mit und wurde von Goebbels 1937 mit dem Titel „Staatsschauspielerin“ ausgezeichnet. Nach ihrem Tod wurde sie auf dem Friedhof Dahlem in Zehlendorf beigesetzt. Ihr Grab ist ein Ehrengrab des Berliner Senats.
5) Kaiserdamm 101: Paula Fürst und Hannah Karminski
An Paula Fürst (1894-1942) erinnert hier seit 2015 ein Stolperstein. Ab 1933 leitete die jüdische Sozialpädagogin am Kaiserdamm 77-79 die Theodor-Herzl-Schule. An der Hausnummer 101 wohnte sie zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Hannah Karminski (1897-1942), die seit 1924 leitende Mitarbeiterin des Jüdischen Frauenbunds war, den ihre Mentorin Bertha Pappenheim (1859-1936) 1904 gegründet hatte. Gleichberechtigung jüdischer Frauen in der Gesellschaft und den jüdischen Gemeinden waren die Ziele, ab 1933 ging es vor allem um soziale Unterstützung jüdischer Frauen. 1938 wurde der Bund verboten. Karminski engagierte sich ab 1939 in der Reichsvereinigung der Juden, wo sie Fluchtmöglichkeiten für Kinder und Hilfe für die Zurückbleibenden organisierte. Wie Fürst begleitete sie Kindertransporte ins Ausland, kam aber selbst immer wieder zurück nach Deutschland. Ab 1941 leitete Karminski die Sozialabteilung der Reichsvereinigung. Im Dezember 1942 wurde sie nach Auschwitz deportiert und ermordet, Paula Fürst in Riga. 2002 wurde eine Charlottenburger Straße nach Karminski benannt. In der Oranienburger Straße 22 in Mitte erinnert ein Stolperstein an Hanna Karminski.
6) Kaiserdamm 16: Wohnhaus von Lola Landau
Eine Gedenktafel auf dem Gehweg erinnert hier an die Verhaftung des Schriftstellers Armin T. Wegner in seiner Wohnung am 16. August 1933. In einem Brief an Hitler hatte er Ende März 1933 gegen den Aufruf zum „Judenboykott“ protestiert. Nach vier Monaten in Gefängnissen und KZs emigrierte er im Dezember nach Italien. Seine Bücher wurden verboten und verbrannt. Unerwähnt bleibt auf der Gedenktafel seine Ehefrau, die Schriftstellerin Lola Landau (1892-1989), mit der er 1925 hier eingezogen war. Landau engagierte sich für Frauenrechte, war Zionistin und Pazifistin. 1933 erhielt sie aus politischen Gründen und als Jüdin Schreib- und Publikationsverbot und wurde antisemitisch angefeindet. Nach der Verhaftung Wegners floh sie mit zwei ihrer drei Kinder nach England, von dort nach Australien und 1936 nach Palästina. Bei einer Reise in den Orient 1929 hatte Landau ihre jüdischen Wurzeln erkundet und ihre jüdische Identität entdeckt, ihr Ehemann konnte sich ein Leben in Palästina nicht vorstellen. 1939 wurde die Ehe geschieden. Nach 1945 erschienen wieder Werke von Landau in Deutschland. Besonders erfolgreich war 1987 ihre Autobiografie „Meine drei Leben“.
7) Kaiserdamm 21: Wohnhaus von Hildegard Margis
8) Kaiserdamm 22: Die Familien Broh und Bontjes Van Beek
Am Kaiserdamm und den umliegenden Straßen gab es zahlreiche jüdische Einrichtungen, Geschäfte, Rechtsanwaltskanzleien und Arztpraxen. An die Betreiberin eines Geschäfts für Damenbekleidung und ihre Schwiegertochter, Hedwig Broh (1879-1941) und Edith Broh (1906-1941), erinnern am Kaiserdamm 22 zwei Stolpersteine. Dem Sohn Julius Broh gelang es 1939 nach Brasilien zu emigrieren. Ehefrau und Mutter erhielten keine Einreisegenehmigung und wurden 1941 nach Minsk deportiert und dort ermordet.
Ebenfalls erinnert seit 2009 ein Stolperstein an Cato Bontjes van Beek (1920-1943). Seit 1940 lebte sie hier zusammen mit ihrer Schwester Mietje Bontjes Van Beek (1922-2012) bei ihrem Vater Jan in einer Wohnung im Hinterhaus. Die Eltern waren seit 1933 geschieden. Aufgewachsen war Cato bei ihrer Mutter Olga, einer Tänzerin und Malerin, in Fischerhude. In der nahegelegenen Werkstatt ihres Vaters am Tegeler Weg 28-33 begann sie eine Ausbildung als Keramikerin. Die Schwestern erlebten hier im Haus vermutlich die Deportation der jüdische Nachbarinnen Hedwig und Edith Broh. Sie begegneten Zwangsarbeitenden, mit denen sie Briefe wechselten, und denen sie Zigaretten und Seife zusteckten. Mietje machte eine Ausbildung zur Zeichnerin und fertigte Skizzen von Zwangsarbeitenden an, denen sie in Berlin begegnet war, und hatte Verbindungen zu einem Kreis Intellektueller. Am Kaiserdamm bekam sie die Aufmärsche der Nationalsozialisten mit. Über den Vater kamen Cato und auch Mietje in Kontakt zur Roten Kapelle und beteiligten sich zusammen mit Catos Freund Heinz Strelow an der Verbreitung von Aufklärungsschriften. Als die Gruppe aufflog und im Herbst 1942 Massenverhaftungen begannen, hatte Mietje das Glück, nicht in Berlin zu sein, Cato wurde zusammen mit ihrem Vater in der Wohnung verhaftet. Jan wurde nach drei Monaten Haft entlassen und zur Wehrmacht eingezogen. Er überlebte, Cato und Strelow wurden hingegen wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Feindbegünstigung“ zum Tode verurteilt. Nach Monaten in den Gefängnissen in der Kantstraße und der Barnimstraße wurde Cato zusammen mit zwölf Frauen und drei Männern der Roten Kapelle am 5. August 1943 hingerichtet. Ihr Leichnam wurde an der Berliner Charité vom Direktor des Anatomischen Instituts, Hermann Stieve, für medizinische Forschungen missbraucht.
9) Kaiserdamm 24: Wohnhaus der Schriftstellerin Else Ury
Die mit ihren „Nesthäkchen“-Büchern berühmt gewordene Autorin Else Ury (1877-1943) wohnte ab 1933 am Kaiserdamm. Wegen ihrer pflegebedürftigen Mutter ging sie nicht ins Exil. 1939 mussten beide in eine „Judenwohnung“ nach Moabit umziehen. In solchen Wohnungen wurden Juden und Jüdinnen unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht. Im Januar 1943 wurde Ury in Auschwitz ermordet. In Moabit erinnert ein Stolperstein an Else Ury. An der Kantstraße 30, wo sie ebenfalls gewohnt hatte, erinnert eine Gedenktafel an sie. Am S-Bahnhof Savignyplatz gibt es einen Else-Ury-Weg und in Kreuzberg trägt eine Familienbibliothek ihren Namen.